Bevor ich mich an einer Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage versuche, sind zwei Vorbemerkungen nötig. Beide bringen an sich nichts Neues, ich habe auch in diesen Notizen immer wieder darüber geschrieben. Zum Verständnis der russischen Politik ist es aber nicht überflüssig, von Zeit zu Zeit an sie zu erinnern.
Da ist zum einen unser weitgehendes Unwissen darüber, wie und nach welchen Kriterien Entscheidungen im Kreml getroffen werden und wer daran beteiligt ist. Zwar weist in jüngster Zeit immer mehr darauf hin, dass sich dieser Kreis verengt (hat). Es gibt sogar viele seriöse Beobachter, die davon ausgehen, dass wir es inzwischen mit der Herrschaft nur eines einzelnen Mannes zu tun haben. Aber selbst das machte es nicht leichter. Dann gäbe es zwar Klarheit darüber, wer entscheidet, aber wohl eher noch mehr Unklarheit darüber, nach welchen Kriterien: Niemand weiß und kann wissen, was in Putins Kopf vor sich geht.
Sam Greene, der früher im Moskauer Carnegie Zentrum gearbeitet hat und seit einigen Jahren das Russia Institute des Londoner King’s College leitet, bemerkt, nur wenig ironisierend, zur Illustration unserer Unwissenheit in seinem Blog: „There are known unknowns, to quote the great Donald Rumsfeld, and unknown unknowns, and nowhere is this more true than in trying to figure out what Vladimir Putin is up to in Syria.“
Die zweite Vorbemerkung bezieht sich auf das, was Putin sagt. Es gibt, vor allem im Westen, die (verständliche, nur allzu menschliche, ja irgendwie sympathische) Tendenz, vieles was gesagt wird, erst einmal für bare Münze zu nehmen. Diese Form von Vertrauen, dass Menschen also sagen was sie meinen und davon ausgehen, dass andere das auch tun, erleichtert, wenn es denn da ist und gerechtfertigt, nicht nur das Zusammenleben, sondern auch Politik oder Wirtschaft. Gesellschaften mit einem gewissen gegenseitigen Grundvertrauen haben es einfacher.
Das gilt selbstverständlich auch für die internationale Politik. Allerdings stehen hinter dem Vertrauen innerhalb von Staaten wie eine Art Sicherheitsnetz meist ein Rechtssystem und Institutionen wie Polizei und Gerichte, die eingreifen können, sollte jemand das Vertrauen zum Beispiel darin, dass ein vertrag eingehalten oder eine Rechnung bezahlt wird, missbrauchen. In der internationalen Politik kann zuviel Vertrauen also leichter und mit schwerwiegenderen Folgen nach hinten los gehen. In Bezug auf Russland und Putin ist zuviel Vertrauen heutzutage dumm und gefährlich. Allerspätestens seit der Krim-Annexion, dem Krieg in der Ostukraine und der begleitenden Propagandakampagne (die in Russland übrigens meist als Teil eines schon im Gange befindlichen „Kriegs mit dem Westen“ dargestellt und aufgefasst wird) sollte allen hinlänglich klar sein, das die gegenwärtige russische Führung kalkuliertes und systematisches Lügen als politisches Mittel einsetzt und dafür weder Mühe noch Kosten scheut (dem widerspricht auch nicht, dass es sich in vielem nicht ein durchdachte Strategie handelt, sondern darum, eigene Inkompetenz und Fehler zu verdecken). Man sollte also bei Putin zur Kenntnis nehmen, was er sagt, sich bei der eigenen Lageeinschätzung und dem eigenen Handeln aber ausschließlich an seinen Taten orientieren..
Wenn Putin sagt, die Ukraine sei ein souveräner Staat, aber nicht zulässt, dass dieser souveräner Staat die Grenze zu Russland nicht kontrolliert, dann ist etwas faul. Wenn Putin sagt, Russland bekämpfe in Syrien den sich selbst so nennenden „Islamischen Staat“ (IS), russische Flugzeuge dann aber Gebiete angreifen, die, soweit wir wissen, nicht unter der Kontrolle des IS stehen, dann stimmt was nicht.
Soweit der Vorrede, nun zur eigentlichen Frage: Was will der Kreml in Syrien? Ganz offenbar nicht oder nicht nur das, was Putin sagt oder sagen lässt. Welche Motive gibt es also noch für den russischen Militäreinsatz in Syrien. Da kommt schnell ein ganzes Bündel von Zielen zusammen, hinter denen eine bunte Mixtur aus innenpolitischen, außenpolitischen und auch ideologischen Motiven liegen. Ich habe in diesen Notizen bereits mehrfach ausgeführt, dass das Handeln des Kremls meiner Überzeugung nach vor allem dem Machterhalt untergeordnet ist. Andere Faktoren mögen auch ein Rolle spielen, aber die Furcht vor einem regime change sollte in allen Analysen der russischen Politik (egal ob nun Innen- oder Außenpolitik) eine zentrale Rolle spielen.
Wahrscheinlich kann man sich, wie das Max Trudoljubow jüngst in Wedomosti getan hat, das Weltbild im Kreml wie eine Festung vorstellen, mit dem Kreml als Zentrum. Darum ziehen sich dann der Gartenring, dann die Moskauer Ringautobahn MKAD als nächste Verteidigungsringe. Darum wieder die beiden „Betonka“ genannten und in den 1950er Jahren gebauten, in rund 50 und 100 Kilometer Entfernung vom Kreml um Moskau verlaufenden Ringstraßen (die im Übrigen gebaut wurden, damit auf ihr Panzer und anderes schweres Militärgerät zur Verteidigung von Moskau fahren können). Weiter vorgeschoben ist die russische Grenze, vor der der Kreml seit vielen Jahren versucht, eine „Zone privilegierter russischer Interessen“in Form eines Rings von von Russland mehr oder weniger abhängiger Staaten zu schaffen. Das gegenwärtige Ringen um die Unabhängigkeit der Ukraine zeugt davon. Folgt man diesem Denken, ist Syrien vor allem Teil eines noch weiter in die Welt hinaus geschobenen Verteidigungsrings.
Diese Vorstellung korrespondiert auch gut mit einem weiteren Treibmittel russischer Politik, der angeblichen politischen Erniedrigung durch den Westen. Das Verlangen nach Kompensation, nach Aufhebung und Rache für dieses größtenteils imaginierten und herbeipropagandierten „Unrecht“ bewegt seit vielen Jahren vor allem das außenpolitischen Denken und Handeln der politischen Elite Russlands.
Folgt man diesem Denken, kommt man schnell dazu, dass ein vom Westen betriebener Sturz Assads (der letzte Verbündete im Nahen Osten), ja praktisch alles, was die USA und ihre Verbündeten tun, vor allem das Ziel hat, Russland zu schaden und seine „natürlichen“ Interessen zu untergraben. Genau so werden der Kiewer Maidan und der Sturz des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch im Februar 2014 in Russland in erster Linie als gegen Russland gerichtet interpretiert. Weder Ukrainern noch Syrern wird in dieser Logik ein eigener Wille zugestanden (wie übrigens auch nicht dem eigenen Volk).
Es dürfte deshalb kein Zufall sein, dass russischer Truppen in einem Moment in den syrischen Bürgerkrieg eingreifen, in dem Assads Regime erstmals wirklich in Gefahr schien (wenn auch nicht in Gefahr durch eine westlich orientierte Opposition, sondern durch den Vormarsch des IS).
Was soll also in Syrien direkt erreicht werden: Assad soll unter (fast allen Umständen) gehalten werden. Der IS soll (zumindest ein wenig) bekämpft werden. Russland soll wieder zu einem Faktor im Nahen Osten werden, mit dem der Westen rechnen muss (mehr rechnen muss als bisher). Die Militärbasis in Tartus (die einzige russische Militärbasis außerhalb der ehemaligen Sowjetunionsgrenzen) soll gesichert werden. Das militärischen Eingreifen sendet zum einen ein Signal an viele Diktatoren dieser Welt, denen sich Russland seit einiger Zeit als Partner gegen westliche Zumutungen anbietet: Russland lässt seine Partner, im Gegensatz zum Westen, auch dann nicht fallen, wenn das eigene Volk gegen sie aufsteht. Die USA haben Mubarak den Massen auf dem Tahrir-Platz geopfert (das lange Zögern zählt nicht). Russland tut so etwas nicht, gibt Putin nun zu verstehen.
Die militärische Unterstützung Assads soll den Westen und insbesondere die USA dazu zwingen, sich mit Russland zu verständigen. Sie werden vor die Wahl gestellt, eine Koalition zu weitgehend russischen Bedingungen einzugehen (also vor allem auf den Sturz Assads zu verzichten) oder ein noch größeres Chaos in Syrien und damit dem gesamten Nahen Osten zu riskieren. In gewisser Weise erhöht der Kreml so den Einsatz in der Auseinandersetzung mit dem Westen in der Ukraine, wohl in der Hoffnung, bei diesem Poker als Nicht-Demokratie mit einer patriotisch mobilisierten Gesellschaft nicht nur die besseren Karten, sondern auch die besseren Nerven zu haben. So möchte man das Land erneut zu einem bedeutenden Spieler im Nahen Osten machen, eine Rolle, die Russland (anders als die Sowjetunion) nie hatte.
Das damit einhergehende Risiko, langsam in einen weiteren Krieg hineingezogen zu werden, wird in Russland zwar gesehen, aber als beherrschbar angesehen. Wohl auch zur Beruhigung der eigenen Bevölkerung hat Putin erklärt, einen Einsatz russischer Bodentruppen werde es nicht geben. Nun sind das, ich verweise auf oben, erst einmal nur Worte. Allerdings ist die Erinnerung an Afghanistan in Russland weiter sehr lebendig. Ein Bodentruppeneinsatz wäre höchst unpopulär. Außerdem verfügt die russische Armee, jenseits der großen Worte nur über eine begrenzte Anzahl wirklich kampfbereiter Einheiten, von denen die meisten zudem an der russisch-ukrainischen Grenzen stehen (von denen freilich einige frei werden könnten, sollte es an der ukrainischen Front zur Entspannung kommen). Schon mit dem Luftwaffeneinsatz geht der Kreml aber ein erhebliches Risiko ein. In den vergangenen Jahren sind in schöner Regelmäßigkeit russische Kampfflugzeuge auch ohne Feindeinwirkung vom Himmel gefallen. Sollte es zu einer Reihe von Abschüssen russischer Kampfjets kommen, könnte es trotz Propaganda ungemütlich für den Kreml werden. Zudem dürften russische Militärs, wenn sie denn professionell sind, Syrien nicht mit der Krim, sondern mit Tschetschenien vergleichen. Dort wurden im Zweiten Tschetschenienkrieg ab 1999 zeitweise bis zu 100.000 Soldaten eingesetzt.
Wahrscheinlich auch deshalb sind die vom Kreml kontrollierten russischen Medien (also vor allem die landesweiten Fernsehstationen) seit Beginn der Bombardements russischer Kampfflugzeuge in Syrien voller Erfolgsmeldungen. In nur wenigen Tagen, so wird der Eindruck vermittelt, hätten die russischen Luftangriffe erreicht, was den USA in den vergangenen eineinhalb Jahren nicht gelungen ist: Der IS, seine Infrastruktur und seine Kommandostruktur seien stark geschwächt, ganze Einheiten würden sich auflösen oder fliehen. So wird der nachlassenden patriotischen Mobilisierung, in der der Krim-Effekt langsam nachzulassen beginnt, neuer Atem eingehaucht.
Bisher wurde Putin, den obigen Hinweise auf die treibenden Kräfte (fast) aller russischen Politik zum Trotz, weitgehend als internationaler Akteur dargestellt. Die drängendsten Probleme sind aber zu Hause. Die Wirtschaftskrise schreitet voran, die Sanktionen beißen weiter schmerzlich, die Krim ist teuer und die nächsten Wahlen stehen ins Haus. Sollte es Putin gelingen, Russland in Syrien erneut zu einem Partner des Westens zu machen (am besten und am liebsten, indem Assad gehalten wird, aber trotz all des oben Gesagten, würde ich nicht darauf setzen, dass er eine conditio sine qua non ist), dann dürfte die erste Rechnung für diese Zusammenarbeit in Bezug auf die Ukraine gestellt werden. Genauer gesagt, geschieht das bereits.
Im russischen Staatsfernsehen hat Syrien die Ukraine schon im Sommer fast vollständig aus den Schlagzeilen verdrängt. Bereits seit dem Frühjahr gibt es zahlreiche Signale aus Russland Richtung Westen, dass man an einer neuen Verständigung, einem neuen modus vivendi interessiert sei (ich habe darüber im Juli in den Notizen geschrieben): Die russischen Forderungen und Hoffnungen auf Aufhebung oder zumindest Abschwächung der westlichen Sanktionen haben sich aber, trotz eines Kerry-Besuchs bei Putin in Sotschi, nicht erfüllt. Das Eingreifen in Syrien ist daher wohl auch ein Versuch, hier voranzukommen.
Ein Russland, dass in Syrien erneut zum (notwendigen) Partner wird oder sich als Partner aufzwingt, kann das, so dürfte im Kreml gedacht werden, auch in Europa wieder werden. So wie es aussieht, ist diese Hoffnung nicht ganz grundlos. Am Tag als die russischen Bomber in Syrien die ersten Einsätze flogen, erklärten die Separatisten im Donbass, der Krieg dort sei vorbei. Aus Russland kamen Nachrichten, dass sie ihre Einheiten von den Frontlinien zurück ziehen würden und das sogenannte „humanitäre Konvois künftig auch tatsächlich nur humanitäre Hilfsgüter transportieren würden. Sollten diesen Worten Taten folgen, könnten die Minsker Vereinbarungen erstmals auch von russischer, oh, Entschuldigung, von Separatistenseite eingehalten werden. Die Kämpfe in der Ostukraine könnten aufhören. Nicht wenige westliche Politiker/innen dürften dann, wie jüngst schon Sigmar Gabriel, dazu neigen, das mit einer Lösung des Konflikts zu verwechseln. Putin wäre glücklich.