Heute, am 17. September, jährt sich zum 76. Mal die Besetzung des östlichen Teils Polens durch die sowjetische Armee. Kein rundes Datum zwar, aber trotzdem, und vor allem angesichts der zunehmenden Rehabilitierung des Hitler-Stalin-Paktes durch die russische Staatsführung bis hoch zu Präsident Putin, jedes Jahr ein wichtiges. In den Räumen von Memorial in Moskau wird heute ein besonderes Buch vorgestellt. Es trägt den Titel „Erschossen in Katyn“ und darin finden sich, erstmals auf Russisch, alle Namen aller 4415 im Frühjahr 1940 von der sowjetischen Geheimpolizei NKWD erschossenen polnischen Soldaten (die meisten Offiziere), die dann bei Katyn verscharrt wurden.
Das Buch ist aus mehreren Gründen besonders. Zum einen ist es eine Art Entschuldigung, vielleicht auch Buße für dieses Verbrechen zumindest eines Teils der russischen Gesellschaft Polen gegenüber. Das Besondere erstreckt sich aber auch darauf, wie das Buch zustande gekommen ist. Memorial hat bewusst kein Geld aus ausländischen Quellen für die Finanzierung der Herausgabe verwandt (das leicht zu bekommen gewesen wäre), sondern darauf gesetzt, das Geld von russischen Bürger/innen gespendet zu bekommen. Binnen zwei Monaten kamen so über Crowdfunding im Internet sogar mehr als die 800.000 Rubel zusammen, die nötig waren, um das Buch in einer Auflage von 5.000 Exemplaren heraus zu bringen.
Dass das geklappt hat (und im Buch werden alle Spender/innen, die das wünschen, namentlich genannt) ist umso bedeutender und wichtiger als in den vergangenen Monaten selbst die noch vorsichtige Anerkennung der sowjetischen (und damit russischen) Schuld der vergangenen vier-fünf Jahre wieder zurück gedreht worden ist. Ich habe in diesem Blog immer wieder darüber geschrieben. Daher hier einige Links, in denen die Entwicklung nach vollzogen werden kann:
Am 31. August 2009 nannte der damalige russische Premierminister Putin in der Gaseta Wyborcza in einem Namensartikel die Morde von Katyn erstmals ein „Verbrechen“, auch wenn er, sozusagen entschuldigend, hinzufügte, auch andere hätten Böses getan.
Im März 2010 veröffentlichte Memorial einen Aufruf an den damaligen Präsidenten Medwedjew, in dem gefordert wurde, der russischen Staat müsse das Katyner Verbrechen nicht nur verbal verurteilen, sondern auch rechtlich als Verbrechen bewerten.
Anfang April dann stürzte bei Smolensk eine polnische Regierungsmaschine mit dem polnischen Präsidenten Kaczynski ab. Alle 96 Insassen starben. Sie waren auf dem Weg zu einer Gedenkfeier in Katyn. Bei der Trauerfeier verurteilte Putin den „sowjetischen Terror“, insbesondere in Katyn, erneut, auch wenn er keine aktuelle russische Schuld zu erkennen vermochte. Allerdings ging er, wie die meisten Beobachter glauben, spontan, zusammen mit dem polnischen Premierminister Tusk vor dem Denkmal für die Erschossenen auf die Knie.
Kurz darauf zeigte das russische Fernsehen zweimal binnen drei Tagen der Film „Katyn“ von Andrzej Wajda. Meinungsumfragen zeigten schnell, dass danach erstmals eine Mehrheit der Menschen in Russland anerkannte, dass die Katyner Morde vom sowjetischen Geheimdienst begangen worden waren (bis dahin glaubte eine Mehrheit, die späteren deutschen Besatzer seien es gewesen), und verurteilte die Morde.
Ein Durchbruch schien geschafft, auch wenn sich die russische Regierung weiter beharrlich weigerte, viele und wichtige Akten über die Morde freizugeben.
Doch dieser Durchbruch hielt nicht lange. Mit der erneuten Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen im Zeichen der Annexion der Krim und des russisch initiierten und unterstützten Krieges in der Ostukraine änderte Putin erneut seine öffentliche Haltung zum Hitler-Stalin-Pakt. Erneut heißt es, er sei ein „notwendiger Schritt zur Verteidigung der Sowjetunion“ gewesen. Und damit wird das Verbrechen von Katyn auch erneut Teil dieser angeblichen „Verteidigung“, die dann selbstverständlich kein Verbrechen mehr sein kann, sondern als „Kriegshandlung“ gerechtfertigt wird (und damit argumentativ in einer Reihe sowohl mit der Krimannexion als auch dem Krieg in der Ostukraine, ja der gesamten Politik steht, die Russland als von Feinden umzingeltes und vom Westen angegriffenes Land darstellt, das sich nur verteidigt).
Umso wichtiger ist es, dass das Buch „Erschossen in Katyn“ heute in Moskau, finanziert von russischen Bürger/innen erscheint.