Putin verurteilt in Katyn den stalinistischen Terror, will aber von einer Schuld des heutigen Russland nichts wissen

In diesem Blog
wird Wladimir Putin selten gelobt. Heute muss das aber einmal sein, nicht
rundum und für alles, was der russische Premierminister gestern (Mittwoch, 7.
April) in Katyn und zu Stalin gesagt hat, aber für Einiges davon und vor allem
für das, was er bisher nicht ausgesprochen hat. Putin verurteilte den
stalinistischen Terror, auch wenn er von einer Schuld des heutigen Russland
nichts wissen wollte.

 

Gemeinsam mit dem
polnischen Premierminister Donald Tusk besuchte Putin die Gedenkstätte bei
Katyn. Genauer gesagt sind dort zwei Gedenkstätten. Eine polnische, an der
mehrerer Tausend polnischer Offiziere gedacht wird, die an dieser Stelle unweit
der westrussischen Stadt Smolensk im Frühjahr 1940 von NKWD-Schergen per
Genickschuss hingerichtet und in Massengräbern verscharrt wurden. Und dann eine
russische Gedenkstätte für ebenfalls mehrere Tausend Opfer (die genaue Zahl ist
bis heute nicht bekannt, nicht alle Massengräber wurden geöffnet), Menschen,
die von Anfang der 1920er bis Ende der 1930er Jahre ebenfalls vom sowjetischen
Geheimdienst, erst Tscheka (kurz für „Außerordentliche Kommission“), dann NKWD
(Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) genannt, ermordet und vergraben
wurden. Beide Gedenkstätten liegen in einer kleinen Waldschlucht, „Tal des
Todes“ geheißen, vielleicht 100
Meter voneinander entfernt.

 

Zuerst knieten
Putin und Tusk vor dem polnischen Mahnmal. In seiner Ansprache sagte Putin: „Es
gibt keinerlei Rechtfertigung für diese Verbrechen. Unser Land hat die Untaten
des totalitären Regimes klar politisch, rechtlich und sittlich bewertet.“ Hier
muss das oben erwähnte Lob das erste Mal eingeschränkt werden. Gerade eine
rechtliche Bewertung, eine klare rechtliche Einordnung der staatlichen
Verbrechen sowohl der Stalinära als auch der Sowjetunion insgesamt, fehlt
bisher. Sie wurde deshalb von Memorial erst jüngst erneut in einem Aufruf an
Präsident Medwedjew eingefordert
.

 

Putin erklärte
weiter, dass das Gedächtnis an die Vergangenheit wach gehalten werden muss, wie
bitter auch immer sie gewesen sei. „Es ist uns nicht gegeben, sie zu ändern,
aber es steht in unseren Kräften, die Wahrheit und historische Gerechtigkeit
wieder herzustellen“, sagte Putin. Und weiter: „Jahrzehnte versuchte man mittels
einer zynischen Lüge die Wahrheit über die Katyner Erschießungen zu verdecken,
aber es ist genauso eine Lüge, die Schuld für diese Verbrechen dem
russländischen Volk aufzuerlegen.“

 

In der Folge
erinnerte Putin daran, dass das russländische Volk durch die Schrecken des
Bürgerkriegs, der gewaltsamen Kollektivisierung und die Massenrepressionen der
1930er Jahre gegangen sei und ihm deshalb „vielleicht besser als wer sonst“
verständlich sei, was Katyn, Mednoje und Pjatichatka für viele polnische
Familien bedeute. Auch in Mednoje bei Twer und Pjatichatka nahe der
ukrainischen Stadt Charkow wurden polnische Offiziere im Frühjahr 1940
ermordet. Putin setzte diese, wie er es nannte, „Trauerreihe“ dieser
Erschießungsorte mit den Namen von Orten des sowjetischen Martyriums fort: der
Erschießungsplatz Butowo südlich von Moskau, der Sekirnij-Berg auf den
Solowki-Inseln im Weißen Meer, die Erschießungsgräben in Gebiet Magadan im
Fernen Osten und in Workuta jenseits des Polarkreises, die namenlosen Gräber in
Norilsk, ebenfalls im Hohen Norden, und am Weißmeerkanal.  

 

„Die Repressionen
haben die Menschen ohne Ansicht ihrer Nationalität, ihrer Überzeugungen oder
ihrer Religion vernichtet“, fuhr Putin fort. „Ganze Bevölkerungsschichten wurden
ihre Opfer in unserem Land.“ Unter ihnen sei die Kosakenschaft gewesen, ebenso
wie Geistliche, einfache Bauern, Professoren, Offiziere, darunter auch aus der
Zarenarmee, die zum Dienst ins sowjetische Russland zurückgekehrt waren, Lehre
und Arbeiter. „Die Logik war ein und dieselbe: Angst im Land zu säen, im
Menschen die niedersten Instinkte zu wecken, die Leute gegeneinander
aufzuhetzen und sie so dazu zu zwingen, sich blind und ohne nachzudenken zu
fügen.“

 

Man kann und
sollte natürlich Putins Entschuldungsversuch für das heutige Russland
kritisieren. Wie das Verständnis für politische Verantwortung im Land,
vorsichtig ausgedrückt, nicht gerade hoch entwickelt ist, so fehlt auch
weitgehend ein Sensorium für die Verantwortung von Taten der Vorgänger und
Vorfahren in der Vergangenheit. Andererseits ist diese Putinsche Einschränkung,
ob nun taktisch gemeint oder von Herzen gesprochen, aber wohl die Voraussetzung
für den heutigen wichtigen, richtigen und gar nicht so kleinen Schritt: Der
russische Premierminister, der populärste und mächtigste Politiker im Land hat
deutlich und unmissverständlich gesagt, was in Katyn, Mednoje und Pjatichatka
vor 70 Jahren passiert ist: Sowjetische Schergen haben unschuldige Polen
ermordet. Das klingt aus westlicher Sicht vielleicht banal, ist aber in einem
Land sehr viel, in dem nach Meinungsumfragen immer noch zwischen 70 bis 80
Prozent der Menschen an die sowjetische Propagandalüge glauben, die polnischen
Offiziere seien von Deutschen Einheiten erschossen worden.   

 

Wichtig ist,
gerade in diesen Tagen, auch der zweite Teil von Putins Aussage, die klare
Verurteilung stalinistischer Verbrechen. Das ist in dieser Deutlichkeit neu.
Erst am Morgen hatte der Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow die Diskussion
wieder aufgenommen, ob denn nicht Anfang Mai, zum 65 „Jahrestag des Siegs“ über
das nationalsozialistische Deutschland in Moskauer Straßen Stalinportraits
aufgehängt werden sollten. 

 

Noch am Mittwoch
Mittag, an der Gedenkstätte, hatte Putin den Namen Stalins nicht erwähnt. Abends
in Smolensk, während der gemeinsamen Pressekonferenz mit Tusk, wartete der
russische Premier dann mit einer eigenen Version von Stalins Motiven für das Katyner
Verbrechen auf. Er denke, und das sei seine persönliche Meinung, so Putin, dass
Josef Stalin den Befehl zur Erschießung der Offiziere aus Rache erteilt habe.
Stalin habe sich persönlich für den Hunger- und Krankheitstod von über 30.000
Rotarmisten verantwortlich gefühlt, die nach dem polnisch-sowjetischen Krieg 1920 in polnische Gefangenschaft
geraten waren. Stalin war damals, kurz nach der Oktoberrevolution, einer der
Befehlshaber der Roten Armee.

 

Diese Putinsche Version
mag ein wenig verschroben daher kommen, aber auch sie folgt der neuen Linie:
Die Verbrechen von Katyn, Mednoje und Pjatichatka wurden vom sowjetischen
Geheimdienst begangen. Das heutige Russland verurteilt diese Verbrechen, kann
dafür aber nicht zur Verantwortung gezogen werden.


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