Was kommt nach Putin? Und wie kommt es?

Schon 2001, Putin war erst ein gutes Jahr Präsident und gerade dabei, alles, was man, großzügiger wenn auch nicht unbedingt demokratischer Weise, unter „checks and balances“ subsummieren könnte, aus dem Weg zu räumen, begannen die damals noch „Polittechnologen“ genannten Spin-Doktoren aus dem Kreml Kritiker/innen, Warner/innen und überhaupt allen, die das mit Skepsis sahen, zu versichern, dass, angesichts dessen, was in Russland in solchen Fällen immer, oft mit deutlicher Herablassung, „Volk“ genannt wird, Putin noch das Beste, das Liberalste, das Europäischste sei, das man sich realistischer Weise wünsche könne. Alle Alternativen seien viel zu schrecklich, um sie überhaupt in Erwägung zu ziehen.

Selbstverständlich haben diese Argumente kaum jemanden in der russischen, wie es später heißen sollte, „außersystemischen“, also der echten Opposition überzeugt. Im in Bezug auf Russland verständlicherweise eher außen- denn innenpolitisch denkenden Westen war das schon anders. Ich jedenfalls (und ich bin sicher nicht der Einzige) habe die oft eher rhetorisch gemeinte Frage nach der Alternative zu Putin in eben diesem Sinne unzählige Male gestellt bekommen, wenn ich über den Putinschen Weg hin zu einem autoritären, in seinen Grundfunktionen dysfunktionalen Staat gesprochen oder geschrieben habe.

Meine Antwort darauf war, in eher redaktionell zu nennenden Variationen, immer dieselbe: Die Herstellung dieser und die Drohung mit dieser falschen Alternative war und ist eines der wichtigsten (und wirksamsten) Herrschaftssicherungsinstrumente des Kremls unter Putin.

Es ist also kaum verwunderlich sondern folgerichtig, das es auch momentan, angesichts des seltsamen, schon 10 Tage währenden Verschwindens von Wladimir Putin aus der Öffentlichkeit wieder zum Einsatz kommt. Im Übrigen hat es Putin soweit gebracht, dass sich kaum jemand, der oder die Russland eine demokratischere, eine freiere, eine weniger gewaltvolle Zukunft wünscht, mehr traut, seinen eventuellen, ich will es einmal so formulieren, Abgang mit einem positiven Zukunftsszenario in Verbindung zu bringen. In den meisten Köpfen hat sich als einzige mögliche Alternative die Wahl zwischen Putin und schrecklich, noch schrecklicher, am schrecklichsten festgesetzt.

Es gibt inzwischen so viel ernste oder ernst gemeinte, ersehnte oder befürchtete, lustige oder bange Vermutungen, was denn nun hinter Putins Abwesenheit stecken möge, dass ich beginne, den Überblick zu verlieren. Ich halte es mit Cicero, ich weiß, dass ich nichts weiß. Es kann also sein, dass Putin krank ist, ob nun an Krebs, nur leicht vergrippt oder sich einfach nach der neuesten Botox-Kur erholt. Vielleicht schlägt er gerade eine Palastrevolution nieder oder wurde von potentiellen Thronstürzlern neutralisiert. Es kann auch sein, dass er sich nur zurückgezogen hat, um mal zu schauen, wie die (russische) Welt so ohne ihn auskommt. Oder er ist eventuell wirklich tot (was ich am allerwenigsten glaube).

Aber alles das wird erst wichtig, wenn wir es wissen. Solange können wir uns nur auf alle Fälle vorbereiten – so gut es eben geht. Viel wichtiger ist aber, und diese Tage rufen es uns nachdrücklich in Erinnerung, dass es eine Zeit nach Putin gibt, dass sie, entgegen vieler Erwartungen und Befürchtungen ganz schnell und plötzlich kommen kann, dass sie etwas mit Putins Gesundheit zu tun haben kann, aber nicht muss. Und wir sollten nicht vergessen, dass es immer eine Alternative zu jedem Menschen gibt. Selbst in auf den ersten,. Den zweiten und vielleicht auch noch den dritten Blick verschlossene Systeme.

An dieser Stelle übergebe ich das Wort Maxim Trudoljubow, verantwortlicher Redakteur der besten Moskauer Tageszeitung, der Wedomosti. Er hat gestern auf seiner Facebookseite einmal kein finsteres Szenario gezeichnet, sondern weist, wie ich finde, auf einen Weg aus dem Dilemma hin. Das heißt nicht, dass das so passiert, wie er schreibt. Aber er schreibt, was passieren kann. Für mich das bisher Klügste:

„Es gibt Kräfte, die die Rolle beanspruchen, die Bewahrer der grundlegenden Werte eines Regimes zu sein: der tiefe Staat, deep state, derin devlet oder glubinnoje gosudarstwo. Obwohl darüber meist in Bezug auf die Türkei gesprochen wurde, gibt es ihn überall. Das sind eine Aristokratie, altes Geld, politisches Familien, wie in Europa und Amerika. Höhere Offiziere, wie in Pakistan, Ägypten und, vor der Erdoganschen Reform, in der Türkei. Wenn wir über den Versuch sprechen, eine mehr oder weniger tiefgehende Korrektur des Regimes in Russland zu versuchen, dann muss genau dieser „tiefe Staat“ handeln. Es kann sein, dass das etwas Ähnliches ist, was Mark Galeotti die „siebte Kolonne“ genannt hat – keine Revolutionäre („fünfte Kolonne“), keine Liberalen („sechste Kolonne“), sondern eine Opposition der „Verantwortlichen“, jener, die sich selbst so verstehen – Leute aus dem Regime selbst. Es ist ein schwere Ironie der Geschichte, das das in vielem die Spitze des FSB und anderer Geheimdienste ist. Aber nicht nur. Man kann den „tiefen Staat“ auch als die Koalition beschreiben, die sich 1999-2000 zusammen gefunden hat. Das, was politisch die Vereinigung der Blöcke „Vaterland – ganz Russland“ und „Einigkeit“ war, im Grunde ein pragmatischer Kompromiss einiger verfeindeter Gruppen mit der Partei der alten [Jelzin-] „Familie“. Wenn das so ist, dann hatte die Rede von Primakow im Januar dieses Jahres wirklich einen Sinn und war das Manifest des „tiefen Staates“ Die Unzufriedenheit dieser Koalition, die die alte „Familie“ mit einschließt, kann durch die Probleme mit ihren Aktiva hervorgerufen worden sein, und zusätzlich auch dadurch, dass die radikale Position des Kremls in den vergangenen zwei-drei Jahren Russland im Grunde aus der Reihe der allgemein anerkannten Großmächte herausgelöst hat. Allein der Besitz eines Atomknopfes hält ein Land nicht in diesem Klub (weder Pakistan noch Indien gehören ja dazu) – es braucht die Beteiligung an gegenseitigen Vereinbarungen, Spielen, Verständigung auf der Ebene großer Einsätze. Der „tiefe Staat“ versucht das jetzt zurückzudrehen, aber das ist schwer. Von dem Ort, an den der gegenwärtige Kreml Russland gebracht hat, kommt man schlecht weg.“