Einer der wichtigsten Bluffs, mit denen Wladimir Putin seine (meist westlichen) Gegner immer wieder auszutricksen versteht, ist eigentlich ganz einfach und aus dem Poker bekannt: Wenn er zu verlieren droht, erhöht er den Einsatz. Das Gegenüber soll denken, er, Putin, habe das bessere Blatt. Erstaunlich oft funktioniert das. So auch in diesem ukrainischen Sommer. Als die ukrainische Armee die Freischärler-Separatisten am Rand einer Niederlage hatte, schickte Putin mehrere Tausend russische Soldaten mit schweren Waffen in das Nachbarland (ich halte die Beweise dafür erdrückend), die das Blatt wendeten, behauptete aber gleichzeitig unverschämt weiter, Russland mische sich militärisch nicht in den Konflikt ein und kam damit durch.
Die ukrainische Armee war der russischen nicht gewachsen. In den Minsker Verhandlungen musste Präsident Poroschenko die Separatisten als Verhandlungspartei akzeptieren, was er bis dahin immer abgelehnt hatte, und auch so tun als sei Russland keine Kriegspartei. Die Bedingungen des Waffenstillstands scheinen einer Kapitulation gleichzukommen. Zwar wurde das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine Anfang September unterzeichnet und von den Parlamenten ratifiziert, aber ein wichtiger Teil, der Freihandel, wurde zunächst bis Ende 2015 ausgesetzt, um, wie es heißt, in weiteren Verhandlungen „russische Interessen“ zu berücksichtigen. Zugleich stimmte das ukrainische Parlament für ein Autonomiestatut der Ostukraine, das den russischen Forderungen weitgehend gleicht. Vom Fast-Verlierer wurde Putin über den Sommer zum Sieger. So lauten zumindest Mitte September die meisten öffentlichen und auch viele nicht-öffentliche Urteile.
Wie konnte es dazu kommen? Was hat die EU, was hat der Westen falsch gemacht? Hätten mehr Sanktionen, schnellere Sanktionen, frühere Sanktionen oder umgekehrt weniger oder keine Sanktionen zu einem anderen Ergebnis geführt? Die Antwort auf diese Frage hängt ganz vom gewählten Zeithorizont ab.
Wenn wir nur das vergangene Jahr betrachten, vielleicht auch zwei oder drei Jahre zurück gehen, dann hat der Westen wohl im Großen und Ganzen getan, was möglich war (die bei praktischer Politik kaum vermeidbaren kleineren bis mittleren Fehlschlüsse und Fehler eingeschlossen). Der große Fehler wurde vorher gemacht, indem Putin nicht ernst genommen wurde. Schon seit 15 Jahren, also von Anfang an haben vor allem Menschenrechtler immer wieder und akribisch davor gewarnt, dass der Putinsche Umbau des Landes Russland wieder für seine Bevölkerung, vor allem aber für seine Nachbarn gefährlich macht.
Nun lässt sich mit gewissem Fug sagen, dass Menschenrechtler immer schreien (das ist ihre Aufgabe) und damit im Konkreten sehr oft Recht haben (im Allgemeinen aber bei weitem nicht immer). Es waren aber nicht nur Menschenrechtler, die warnten. Auch ich (nur ein Beispiel und unter vielen anderen) vor ziemlich genau 10 Jahren hier in den Russlandanalysen in einem Artikel unter der Überschrift „Der Freund des Kanzlers“ bereits vor der aufziehenden Gefahr gewarnt. Anlass war die Einladung Wladimir Putins durch den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder zu seiner Geburtstagsfeier nach Hannover. Diese Form von Verbrüderung nannte ich seinerzeit „unanständig“ und kritisierte auch meine eigene, die Grüne Partei, weil sie derlei in der rot-grünen Koalition mitmachte, sich zumindest nicht ausreichend deutlich davon abgrenzte.
Der zweite Absatz des Artikels lautete so:
„Die für diese ‚Politik der weichen Hand‘ angegebenen Gründe lassen sich zugespitzt im Dreiklang ‚Stabilität, Antiterrorkrieg, Wirtschaft‘ zusammenfassen. Den westlichen Regierungen, darunter auch der Bundesregierung, sind diese drei Komponenten wichtiger als die russischen Probleme mit demokratischen Normen, Menschenrechten, Pressefreiheit und Zivilgesellschaft. Hinter dieser Prioritätensetzung verbirgt sich die lange nachwirkende Erleichterung, dass die Auflösung der Sowjetunion und der Systemwechsel in Russland Anfang der 90er Jahre ohne großen Bürgerkrieg vollzogen wurden. Aktuell noch wichtiger dürfte die Erleichterung sein, dass die Instabilität der Jelzin-Zeit nicht zum Staatszerfall geführt hat. Jedenfalls braucht in absehbarer Zeit niemand zu befürchten, dass Russland die länger werdende Liste der failing states bereichern wird. Beide Überlegungen entspringen sicher legitimem politischem Denken. Doch reichen sie eben nicht aus, sind nicht weitsichtig genug.
Wer eine mögliche demokratische Entwicklung Russlands zumindest auf politisch absehbare Zeit abschreibt und schon froh ist, wenn dieses große, oft gewalttätige und irgendwie unheimliche Land nicht allzu viel Destruktivpotential entwickelt, unterschätzt die in dieser Politik verborgenen Untiefen. Das Schiff kann trotzdem sinken.”
Noch einmal: Ich zitiere das nicht, weil ich Recht behalten möchte (das wäre ein doch allzu bitteres Vergnügen), sondern als Beispiel für das, was nicht nur ich, sondern auch viele andere ähnlich geschrieben und gesagt haben. Immer wieder (zum Beispiel nach dem Georgienkrieg im Sommer 2008) und über einen lange Zeitraum. Es geht mir nicht ums Rechthaben, sondern darum, was jetzt zu tun ist.
Putin veränderte Russland von innen. Die Welt veränderte sich draußen. Die politische, militärische und ideologische Dominanz des Westens wurde schwächer. Irgendwann also, vielleicht nach 2008, als die (westliche) Welt vor allem mit Finanzkrisenbewältigung beschäftigt war, wurde der jetzige russische Etappensieg unvermeidbar. Vom Anfang des Ukraine-Konflikts an haben die westlichen Regierungen eine militärische Antwort auf die Annexion der Krim und den unerklärten Krieg Russlands in der Ostukraine ausgeschlossen (wie ich finde, richtiger Weise). Folglich blieben nur Sanktionen als Mittel, der russischen Führung zweierlei deutlich zu machen: Dass man es ernst meint damit, die fundamentale Regelverletzung der europäischen Post-Cold-War-Ordnung nicht hinzunehmen, und dass die Kosten für Russland, sollte es nicht einlenken, hoch sein werden. Die Entscheidung, ich habe das in diesem Blog ausgeführt, lag und liegt bei Putin. Das ist sein Vorteil und seine Bürde.
Wenn Putin nun aber diese Etappe gewonnen hat und wenn das unvermeidbar war, was heißt das dann für die Sanktionen? Verschärfen? Aufhören? Weitermachen?
Zuerst: Alle Umfragen zeigen, dass die Sanktionen (abstrakt) die Bevölkerung nicht schrecken. Anfangs waren gut 40 Prozent sind der Meinung, das sei eben der Preis, den Russland für „Krim nasch“ (russisch für „die Krim ist unser“) zahlen muss und erklären, sie seien bereit, dafür Nachteile in Kauf zu nehmen. Weitere rund 40 Prozent fänden zwar persönliche Nachteile nicht so schön, glauben aber (wie im Übrigen die ersten 40 Prozent auch), dass die Sanktionen nur die Elite treffen. Von dieser Seite droht dem Kreml also vorerst kein Ungemach.
Auch die Eliten (im weiteren Sinn) schienen zumindest anfangs unbeeindruckt. Der Konsolidierungseffekt von „Krim nasch“ war auch hier deutlich zu spüren. Doch die bisher jüngste, dritte Stufe der Sanktionen hat das geändert. Das liegt nicht an den Sanktionen allein, sondern dass sich ihre Folgen auf die schon lange nicht mehr latente Wirtschaftskrise legen. Dadurch vertiefen sie die ohnehin für das Putinsche Machtsystem konstitutiven Spannungen zwischen dem Wirtschaftsblock und den sogenannten Machtapparaten (ich weiß, dass das eine ein wenig vereinfachende Sichtweise ist, für die hier zu ziehenden Schlüsse scheint mir das aber zulässig).
Im Zuge des Ukrainekonflikts hat der Wirtschaftsblock seinen ohnehin schon seit einiger Zeit schwindenden Einfluss auf Putin, sprich: auf die grundlegenden Entscheidungen, fast völlig eingebüßt. Nach außen deutlichstes Zeichen dieser Entwicklung war der (provozierte) Rauswurf des langjährigen Finanzministers Alexej Kudrin, der bis zum Herbst 2011 Garant für ein ausreichend stabiles Gleichgewicht zwischen Wirtschaftswachstum und Großmachtambitionen war. Kudrin wollte seinerzeit ein Zeichen gegen den massiven Ausbau der Sicherheitsapparate und der Armee auf Kosten soliden Wirtschaftens setzen. Seither hat sich der ökonomische Erosionsprozess erheblich beschleunigt und das Gleichgewicht ist inzwischen empfindlich gestört.
Heute häufen sich Klagen von Wirtschaftsfachleuten, es gebe im Kreml nicht nur keinen Plan, wie die Wirtschaftskrise überwunden werden soll, sondern auch kein Verständnis, dass das nötig sei. Aus dem Kreml wird kolportiert, Putin habe im Frühjahr die Losung ausgegeben, in Bezug auf die Ukraine sei „Wirtschaft nicht wichtig“. Die demonstrativ nach der Krim-Annexion und den ersten westlichen, noch eher symbolischen Sanktionen vorgenommene Wendung „nach Osten“, symbolisiert vor allem durch den Abschluss des Gasvertrags mit China, kommt nicht in Gang. Die Zweifel, ob das als Alternative zum Westgeschäft mittel- und langfristig überhaupt trägt, überwiegen inzwischen bei den Analysen.
Die dritte Stufe der Sanktionen tut nun, indem sie den Zugang russischer Unternehmen zu den westlichen Kreditmärkten fast völlig schließt, erstmals richtig weh, und Putins „Wirtschaft ist nicht wichtig“ wird auf eine harte Probe gestellt. Die Refinanzierungsnotwendigkeiten bei fälligen Krediten bleiben gleichzeitig hoch. Am russischen Kapitalmarkt ist kaum etwas zu holen. Auch die Kapitalmärkte in den Schwellenländern sind zu schwach, um Ausgleich zu schaffen. So bleiben letztlich nur die (unter Kudrin) angesparten Reserven der beiden großen staatlichen Fonds (des „Reservnyj Fond Rossijskoj Federazii“ und des „Fond Nazionalnogo Blagosostojanija Rossii“), die nach der Aufspaltung des Stabilitätsfonds 2008 entstanden sind. Um Gelder aus diesen Staatreserven tobt schon seit Monaten ein erbitterter Kampf. (Öffentlich) Beworben haben sich bereits alle Giganten der russischen Wirtschaft, angeführt von Gasprom, dem größten Ölkonzern Rosneft und der größten Bank Sberbank (alle übrigens in Staatsbesitz).
Wie angespannt die Situation inzwischen ist, zeigte vorige Woche die Verhaftung des Milliardärs Wladimir Jewtuschenkow, der sich geweigert hatte, seine Anteile am Ölförderer Baschneft an den von Igor Setschin, einem engen Putin-Vertrauten, geführten Branchenführer Rosneft zu verkaufen. Wenn auf dem Bankenmarkt kein Kapital beschafft werden kann, werden Unternehmen mit Kapitalreserven attraktiv. Außerdem sind konkurrierende Unternehmen auch Konkurrenten im Kampf um die Reserven aus den Staatsfonds. Die Verhaftung des politisch immer überaus loyalen Jewtuschenkow zeigt also, dass die Sanktionen ihre Hauptaufgabe zu erfüllen beginnen. Angesichts der immer knapperen Ressourcen könnte eine neue Welle der „Umverteilung der Vermögen“ bevorstehen, die zu großen Loyalitätsproblemen in der Staatselite führen würde. So beginnen die Sanktionen einen Keil in die wirtschaftliche und politische Elite zu treiben, indem sie die ohnehin vorhandenen Widersprüche zwischen Wirtschaftsblock und Sicherheitsapparat verschärfen. Schon aus diesem Grund wäre es ein schwerer Fehler, sie wieder zu lockern.
Es gibt aber noch einen weiteren Grund, den ich für wichtiger halte. Die russische Führung muss überzeugt werden, dass die EU und die USA es ernst meinen. Zu frühes Zurückziehen würde als Schwäche aufgefasst. Die nächste Aggressionsstufe ließe nicht lange auf sich warten. Warum das so ist, habe ich in meinen Notizen zum Thema „Gopniki“ unlängst dargelegt.
Das alles wird die Grundfesten des Putinschen Regimes nicht erschüttern, jedenfalls nicht kurzfristig, mit etwas Glück aber Schlimmeres verhindern helfen. Die Opposition bleibt schwach bis nicht vorhanden. Wie sie gestärkt werden kann und die noch verbliebenen Zonen demokratischen staatsbürgerlichen Selbstverständnisses nicht nur verteidigt, sondern gar gestärkt werden können, ist die andere Seite der Medaille ‚Verantwortung des Westens‘.