Immerhin eins hat Wladimir Putin geschafft. Alle Welt muss darauf warten, was er tun wird. Putin hat die Wahl. Im Grund bleiben ihm drei Möglichkeiten: Er macht weiter wie bisher und unterstützt die Freischärler in der Ostukraine mit Waffen, Freiwilligen und einer offenen Grenze. Oder er beugt sich dem Druck aus dem Westen und lenkt ein. Oder aber er spitzt den Konflikt noch weiter zu und schickt reguläre russische Truppen zum „Schutz unserer Landsleute“ in die Ukraine. Das hört sich ganz komfortabel an. Doch das mag trügen. Wie es aussieht, ist Putins Wahl inzwischen eine zwischen mehrere schlechten Optionen, die alle von ihm einen hohen Preis fordern werden. Wie ist es dazu gekommen?
Zuerst die Vorgeschichte in Thesen:
- Die russische Führung mit Präsident Putin an der Spitze hat keinen großen strategischen Plan. Ihnen mag ein „großes Russland“, eine „wiedererstandene Großmacht“ vorschweben, vielleicht aber auch nicht. Sie wollen sicher an der Macht bleiben: Weil es schön und einträglich ist an der Macht zu sein; weil sie soviele Verbrechen begangen haben, dass sie gar nicht von der Macht lassen können, weil sie davon überzeugt sind, dass nur sie das Land in eine „lichte Zukunft“ führen können. Aber sie haben keine Blaupause, wie man dahin kommt.
- Die Politik der russischen Führung ist also taktisch. Jede Herausforderung wird angegangen, wenn sie da ist. Es gibt sogar Leute, die behaupten, das sei Putins Verständnis von Politik. Kein großen Entwürfe, sondern harte Arbeit am Alltäglichen. Das macht die Putinsche Politik zwar reaktiv, aber bisher durchaus erfolgreich (auch wenn man sich natürlich darüber streiten kann, was in diesem Fall Erfolg heißt).
- Es gibt also keinen großen Plan, wohl aber gibt es eine idée fixe. Sie heißt Souveränität. Souveränität im Verständnis der politischen Führung in Russland bedeutet „von niemandem abhängig“ zu sein, also „souverän“ entscheiden zu können (ganz im Sinn des in Russland hoch geschätzten Carl Schmitt). Diese Idee treibt das Land in Richtung Selbstisolation.
- Das Projekt einer Eurasischen Union als dezidiertes Gegenstück zur Europäischen Union ist (war?) eine Reaktion auf die als fundamentale Bedrohung für die eigene Macht empfundenen Proteste des Winters 2011/2012. Das heißt nicht, dass es das Projekt nicht vorher gab und dass es nicht auch andere Motive dafür gibt (z.B. sehr vernünftige ökonomische). Das heißt nur, dass das Projekt Eurasische Union seinen prioritären Status, seine Erhebung zur Staatsraison erst im Zuge der Abwehr der (vermeintlichen oder tatsächlichen) Bedrohung des Machterhalts durch die Proteste erhalten hat.
- Erst Mitte 2013 wurde den Entscheidern im Kreml offenbar klar, dass die EU sich in Bezug auf die Ukraine entschieden hatte, endlich ernst zu machen, und die Führung dort um Präsident Wiktor Janukowitsch vor die Entscheidung stellte, das EU-Assoziierungsabkommen nun zu unterschreiben oder eben nicht. Und sie verstanden, dass Janukowitsch (vor allem aus innenpolitischen Gründen) wohl unterschreiben würde. Daraufhin begann Russland erheblichen Druck auf die Ukraine auszuüben (Importstopps, verlangsamte Grenz. Und Zollkontrollen, Rücknahme von Bestellungen bei ukrainischen Industrieunternehmen etc.). Die Daumenschrauben und das 15-Milliarden-Kredit-Angebot stimmten Janukowitsch um. Mitte November in Vilnius beim EU-Gipfel weigerte er sich das Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen. Die EU war düpiert, der Kreml triumphierte.
- Über die Eskalation der Proteste gegen diese Entscheidung auf dem Maidan ist ausführlich geschrieben worden. Ich will das hier nicht wiederholen. Ich will und kann hier auch nicht die Frage diskutieren, wer für die Gewalteskalation mit dem mehr als 100 Ermordeten verantwortlich war (obwohl ich dafür der russischen Führung zumindest eine erhebliche Mitschuld zu geben geneigt bin). Das ist zwar wichtig (in erster Linie für die Angehörigen der Toten, auch für die Zukunft der Ukraine als Staat), aber es spielt für die folgenden Entwicklungen keine Rolle. Dafür ist wichtig, dass nach dem 21. Februar, nach der Flucht von Janukowitsch fest stand, dass der Kreml den von ihm ausgerufenen „Kampf um die Ukraine“ erneut verloren hatte. Und dass damit das Projekt Eurasische Union für eine absehbare Zukunft tot ist.
An dieser Stelle endet die thesenhafte Vorgeschichte. Es folgte die Annexion der Krim. Erneut ist hier nicht wichtig, ob es dazu schon seit längerem Pläne gab, ob es sich dabei „nur“ um militärische Notfallpläne handelte und wie gründlich die Besetzung der Krim vorbereitet worden war. Wichtig für die weitere Entwicklung sind drei andere Aspekte:
- Die Besetzung und Annexion der Krim verlief aus Sicht der russischen Führung sehr erfolgreich, wohl viel erfolgreicher als erwartet. Der Westen zeigte von Anfang an deutlich, dass es keinerlei militärisches Eingreifen geben würde (wie ich finde, richtiger Weise). Die neue, noch im Aufbau begriffene ukrainische Führung fürchtete ebenfalls jegliche militärische Konfrontation (wohl ebenfalls zurecht). Die Unterstützung in der Bevölkerung der Krim war hoch, auch wenn die Apathie und der Grimm auf die ukrainische Regierung in Kiew wohl noch höher waren. Vor allem aber übertraf die Unterstützung von Besetzung und Annexion der Krim in Russland selbst alle Erwartungen des Kremls. All dies, vor allem aber Letzteres, verführte viele zum Weitermachen (darunter den Kreml selbst, russische Wehrsportgruppen, russische Hardcore-Nationalisten, Ostukrainer mit Wut auf Kiew).
- Der Kreml unter Wladimir Putin überschritt mit der Annexion der Krim erstmals eine wirklich rote Linie des Westens. Die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa als Garant für den Frieden auf dem Kontinent sind für die meisten Politiker/innen in der EU, aber auch in den USA (wie sich nun zeigt: tatsächlich!) nicht verhandelbar. Unbeantwortet bleibt für mich die Frage, ob das den Entscheidern im Kreml so bewusst war oder nicht. Ich vermute, dass nicht. Der Grund dafür dürfte in der fundamental unterschiedlichen Bewertung des Zerfalls der beiden letzten Vielvölkerstaaten in Europa gelegen haben: der Sowjetunion und Jugoslawiens. Kurz gesagt war es für die EU und die USA der vor allem serbische Versuch, die inneren Grenzen Jugoslawiens zu verschieben, der die Katastrophe der Balkankriege in den 1990er Jahren ausgelöst hat. Für die russische politische Elite ebenso wie für einen Großteil der Bevölkerung war der Auslöser die Auflösung Jugoslawiens selbst, betrieben durch „den Westen“. Das wurde und wird in Russland als gegen die als „natürlich“ verstandene serbische Vorherrschaft auf dem Balkan gerichtet verstanden und in einer Art Übertragungsleistung erst auf die Sowjetunion und inzwischen auch auf Russland projiziert. Durch die These von der „Auflösung Jugoslawiens durch den Westen“ erhalten vielen Menschen in Russland eine für die angenehme und annehmbare Antwort auf die Frage, warum die Sowjetunion auseinander gefallen ist (und müssen sich so nicht mit der Frage auseinandersetzen, warum das mit der Freiheit nicht so gut klappt).
- Vielleicht am Wichtigsten: Wladimir Putin begründete die Annexion der Krim in seiner Anschlussrede vom 18. März 2014 im Kreml mit dem „Schutz unserer Landsleute“. Diese „national-patriotische“ Argumentation, die starke „völkische“ Anklänge hat, macht ihn heute zum Gefangenen seiner eigenen Worte (etwas, was Politiker normalerweise eher zu vermeiden suchen). Fast bin ich versucht zu schreiben: Da hat der Romantiker über den Politiker in Putin Oberhand gewonnen.
Putin hat damit in Russland, aber auch an anderen Orten (in der Ostukraine, in Nordkasachstan, im Osten Lettlands und Estlands, aber auch an Orten russischer Diaspora oder Auswanderung, wie Israel, der EU oder den USA) Hoffnung und Erwartungen geweckt, die so leicht nicht mehr zurück zu nehmen sind. Das gilt umso mehr, als die radikalsten Forderungen sogenannter russischer „National-Patrioten“ (übrigens ein schöner Gegensatz zu den „National-Verrätern“ von der Opposition, vor denen Putin in der Krimrede warnte) seit Monaten zum Mainstream der staatlichen Propaganda (vor allem im Fernsehen) gehören.
Hätte Putin dagegen die Krim-Annexion nicht mit einer eher mythischen „russischen Welt“, sondern realpolitisch motiviert, also zum Beispiel mit militärischer Sicherheit (was wegen Sewastopol und der Schwarzmeerflotte durchaus seine eigene innere Logik gehabt hätte), wäre ein (Teil-)Rückzug heute mit weit geringeren (politischen) Kosten verbunden.
Diese drei Aspekte, zusammen mit der offenbar dem Überschwang des Krimerfolgs geschuldeten Fehleinschätzung, in der ostukrainischen Bevölkerung werde die Unterstützung für das russische Vorgehen ähnlich groß sein wie auf der Krim, und dem Abschuss des Flugs MH17 haben Putin und sein Russland nun in die Lage gebracht, nur die Wahl zwischen schlechten Optionen zu haben, wie es weiter gehen soll. Eine weitere Zuspitzung, egal ob nun durch einfaches Weitermachen oder den, unter welchem Vorwand auch immer, Einmarsch regulärer russischer Truppen auf der Krim, wird den Konflikt mit dem im Großen und Ganzen offenbar konfliktbereiten Westen weiter eskalieren. Einen Konflikt, von dem, soweit das aus der Black-Box Kreml zu vernehmen ist, auch die russische Führung weiß, dass er nicht zu „gewinnen“ ist (und hier hoffe ich sehr stark, dass ich diese Signale richtig wahrnehme), wohl auch nicht, wenn „Gewinn“ ausschließlich als Machterhalts im Inneren verstanden wird.
Die Option einzulenken ist aber auch mit erheblichen Risiken verbunden. Da ist zum einen die systematisch angeheizte Stimmung im Land. Putin habe den national-patriotischen Geist aus der Flasche gelassen. Dessen Aggregatzustand befinde sich, wie mein Freund Jan Ratschinskij von Memorial treffend sagt, inzwischen irgendwo zwischen einer gesättigten und übersättigten Lösung. Diese fast schon chemische Reaktion zu stoppen mag unter großen Energieaufwendungen noch möglich sein, das ist zumindest zu hoffen. Es wird Putin aber einen großen politischen Preis kosten.
Was aber auch immer passieren wird, wie immer sich Putin entscheiden wird: Für die Opposition im Land, die NGOs, für alle, die nicht in den national-patriotischen Chor einzustimmen bereit sind (oder sich zumindest ruhig zu verhalten), werden die Zeiten noch härter werden als sie ohnehin schon sind. Sollte Putin weiter auf Konfrontation mit dem Westen setzen, müsste die innere Mobilisierung gegen den „äußeren Feind“ wohl mindestens auf dem jetzigen Niveau bleiben, vielleicht gar noch gesteigert werden. Dazu gehörte dann ohne Zweifel weiter der „Kampf“ auch gegen den imaginierten „innere Feind“, die schon in der Krimrede erwähnte „fünfte Kolonne“ und die „National-Verräter“.
Sollte er dagegen zurückziehen und (wenn vielleicht auch nur zeitweise) im Ukrainekonflikt einlenken, müsste er, um den dann zu erwartenden Vorwürfen, die „Landsleute“ in der Ostukraine „verraten“ zu haben, nicht nur gegen die liberale Opposition vorgehen, wie bisher schon, sondern auch gegen die in den vergangenen Monaten erstarkten Nationalisten jeglicher Coleur (was hier durchaus wörtlich zu verstehen ist, da es sich in gewisser Weise bei Putins neuer Staatsideologie um eine modernisierte Variante des von Eduard Limonow und Alexander Dugin erfundenen „Nationalbolschewismus“ handelt). Das würde wiederum mit großer Wahrscheinlichkeit mehr Repressionen gegen alles und alle bedeuten, die sich nicht fraglos dem politischen Kurs des Kremls unterordnen wollen oder können.
In diese Überlegungen habe ich bisher nicht die (macht-)politischen Auseinandersetzungen innerhalb der russischen Machtelite einbezogen. Ich gehe davon aus, dass Putin zwar die unmittelbare Alleinentscheidungsgewalt hat, aber selbstverständlich in seine Entscheidungen Überlegungen darüber eingehen, inwieweit sie die Loyalität seiner Gefolgsleute (so sie Gefolgsleute sind und nicht Mitläufer oder einfach nur Opportunisten) beeinflussen könnten. Anders ausgedrückt, ist er zwar frei, zu entscheiden, aber weit weniger frei in seinen Entscheidungen.