In den vergangenen zwei-drei Wochen war in Moskau eine ganz kleine, ganz leichte Entspannung der (außen-)politischen Lage spüren. Ja, eher zu spüren, denn tatsächlich, im Wortsinn, zu fassen. Das betrifft in erster Linie den Konflikt um die Ostukraine, hat aber auch Auswirkungen auf die Situation innerhalb Russlands. Deutlichstes äußeres Zeichen dieser Entspannung, wenn mir auch das Wort beim zweiten Mal schon viel widerspenstiger aus den Tasten kommt; Entspannung ist eine leichte Verschiebung der Propaganda-Rhetorik.
Die ukrainische Regierung wird im Fernsehen plötzlich nicht mehr „Junta“ genannt, sondern einfach als Regierung bezeichnet. Und auch das Wort „Faschisten“ kommt viel seltener vor. Daneben häufen sich Berichte, die vor einem „großen Krieg“ warnen. Dieser „große Krieg“ sei genau das, was die USA wollten, wohin sie „Russland hineinziehen“ wollten, damit Russland dann wie ein „Aggressor“ aussehe (ein Videobeispiel hier). Hinzu kommen vermehrt öffentliche Auseinandersetzungen von Hardcore-Nationalisten untereinander, wer „Putin verraten“ habe oder „die Menschen in der Ostukraine“, und wer die „wahren Patrioten“ seien (hier nur als Beispiel eine sogenannte „Pressekonferenz“ von Sergej Kurginjan in Donezk am 7. Juli). Das alles sieht so aus und hört sich so an, als ob der Kreml den seit Monaten von der Leine gelassenen ultranationalistischen Mob nun erst einmal wieder ein wenig zähmen will, sei es, weil er aus Sicht der Machthaber „zu frech“ geworden ist, sei es, weil die kommenden politischen Schritte das fordern (könnten).
Natürlich muss man mit solchen Tendenzen („Entwicklungen“ kann man das mangels Evidenz ja kaum nennen) vorsichtig sein. Das Ziel könnte, wie schon gesagt, einerseits sein, zu zeigen, wer „Herr im Haus“ ist. Andererseits dienen solche kleinen Atempausen auch immer der Beruhigung der Öffentlichkeit, vor allem aber von Politikern im Westen (von denen viele ohnehin gerne beruhigt werden wollen). Das entspricht Putins Taktik bisher, immer nur so weit zu gehen, dass es wirklich ernsthafte Sanktionen nicht gibt (was immerhin heißt, dass sie gefürchtet werden oder zumindest, wenn es geht, besser vermieden werden sollten).
Dass die Propaganda ein wenig zurück genommen wurde, zeigte sich sofort auch in Umfragen. Das Lewada-Zentrum hat nach den Worten von Direktor Lew Gudkow Anfang Juli erstmals eine, wie er sich im Gespräch ausdrückte, „leichte Ernüchterung“ in der Bevölkerung ausgemacht. Zwar bleibt die Zustimmung zur Annexion der Krim mit bis zu 94 Prozent extrem hoch. Die Zustimmung oder Forderung nach einem militärischen Eingreifen in der Ostukraine ist aber erstmals gesunken. Zwar sind weiterhin knapp über 40 Prozent der Befragten dafür, aber auch fast 40 Prozent dagegen (hier eine Umfrage von Ende Juni, die die neuesten Entwicklungen noch nicht wieder gibt).
Unter denjenigen, die in Russland über Politik nachdenken und auf sie, wenn auch mit meist begrenzten Mitteln, Einfluss zu nehmen versuchen, kursieren verschiedene Erzählungen, wie es gekommen sei, dass Putin sich (bisher?) gegen eine direkte militärische Intervention in der Ostukraine entschieden hat. Die erste sagt, es habe nie den Plan gegeben (oder alternativ: Putin habe nie geplant), das zu machen, weil von vornherein klar war, dass das politische, militärische und wirtschaftliche Risiko zu groß sei.
Eine zweite Version erzählt von einem (manchmal auch zwei) Situationen im Frühjahr, in denen die Truppen schon bereit standen und Putin den Einmarschbefehl habe geben wollen, er aber von Wladimir Jakunin und Gennadij Timtschenko davon abgebracht worden sei. Beide, der Eisenbahnchef und der (inzwischen wohl ehemalige) Ölhändler, gehören zum engsten Kreis um Putin und sind prowestlicher Sentimentalitäten unverdächtig. Ihre Argumentation soll entsprechend auch nicht in erster Linie auf die wirtschaftlichen Folgen für russische Unternehmen und die Bevölkerung abgezielt haben, sondern auf eine damit verbundene Gefährdung des Projekts, Russland wieder zu einer Großmacht zu machen.
Eine dritte Version schreibt die Überredung Putins, nicht direkt militärisch zu intervenieren, dem ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin zu. Kudrin trifft sich, das ist bekannt, weiterhin regelmäßig mit Putin. Er soll, so diese Version, Putin drastisch die wirtschaftlichen Folgen eines endgültigen Bruchs mit dem Westen vor Augen gehalten haben. Außerdem wird in Moskau immer noch erzählt, Putin halte sich Kudrin als möglichen Premierminister für den Fall in der Hinterhand, dass dringend und schnell verlorenen gegangenes Vertrauen des Westens und von Investoren zurück gewonnen werden soll (muss).
Wie dem auch sei (die Black Box Kreml gibt Gewissheiten ja nicht preis), bis heute gibt es keine offene Intervention regulärer russischer Truppen, auch keine wirklich rauchende smoking gun. Es wäre indessen, davon bin ich überzeugt, aber leichtsinnig, die Möglichkeit einer Intervention völlig abzuschreiben. Im Kreml wird (fast) immer mit allen möglichen Szenarien jongliert. Aber mir scheint die Wahrscheinlichkeit, siehe oben, doch ein wenig kleiner geworden zu sein.
Sollte also Putin vor einer militärischen Intervention in die Ukraine zurückschrecken oder nie eine vor gehabt haben, stellt sich für ihn (und für uns) eine andere Frage: Wie kommt er aus den seit nun schon mehr als acht Monaten tagtäglich geschürten Hoffnungen und Erwartungen vieler Menschen in Russland, man müsse „den Landsleuten“ in der Ukraine, die dort laut Propaganda zu Zehntausenden, ja zu Hunderttausenden gefoltert, getötet und erniedrigt werden (was viele Menschen, beileibe nicht nur Nationalisten, in Russland –Propaganda sei Dank – wirklich ernsthaft glauben!), zu Hilfe eilen, wieder heraus?
Eine große Sorge vor allem vieler Oppositioneller in Russland ist, dass die Antwort lauten könnte: gar nicht! Es gibt aber auch weniger skeptische Stimmen. Sie verweisen meist auf den heute größten innenpolitischen Trumpf Putins (auch wenn er zugleich das Zeug zum großen außenpolitischen Malus hat): die Krim. Demnach könnte Putin allen Kritikern entgegen halten, er (Betonung: ER) habe die Krim „zurückgeholt“, zudem unblutig, ohne militärische Gewaltanwendung. Niemand hätte das noch vor einem halben Jahr überhaupt für möglich gehalten (was stimmt). Außerdem könnte er auf die eher zurückhaltende Stimmung in der Bevölkerung in Bezug auf eine militärische Intervention in der Ukraine verweisen.
Um richtig verstanden zu werden: Ich gehe davon aus, dass es weiter (auch), zumindest für alle Fälle, vielleicht aber auch konkreter, Pläne zum Einsatz regulärer russischer Einheiten in der Ostukraine gibt. Szenarien, wie das inszeniert und begründet werden könnte, gibt es zahlreiche. Die herausragende Rolle, die das Eingreifen der NATO 1999 in Serbien und im Kosowo in der öffentlichen Debatte und Meinung in Russland spielt, weist darauf hin, dass das Vorschieben einer „humanitären Intervention“ zum Schutz „unserer russischen Landsleute“ darin vorkommen dürfte. Als „Anlass“ könnten (egal, ob nun tatsächliche, angebliche oder gefakete) Angriffe ukrainischer Einheiten auf russische Grenzposten oder die Beschießung russischen Territoriums dienen. In beiden Fällen ließe sich mit Hilfe des, wie die vergangenen Monate gezeigt haben, immer noch überaus effektiven Propagandainstruments Fernsehens die gegenwärtig eher wieder skeptischere Meinung vieler Menschen in Russland sicher wieder für eine Intervention wenden.
Der Westen, die EU, die Bundesregierung sollten also weiter sehr, sehr deutlich machen, dass das harte Konsequenzen haben würde. Und sollte zu diesen Konsequenzen auch bereit sein. Momentan scheint eher eine Art Positionsspiel im Gange zu sein, bei dem die Gefahr besteht, dass Putin es schafft, sich im Falle einer Nicht-Intervention am Ende (mit oder trotz der Krim als Beute) als großen Friedensfürsten zu inszenieren. Die schwierige Aufgabe ist es, den Kreml zu loben, wenn er zur Lösung des Konflikts beiträgt, aber gleichzeitig ebenso deutlich zu machen, dass dieser so überhaupt nur entstehen konnte, weil in erster Linie er ihn geschürt hat. Dem neuen deutschen Botschafter in Moskau, Rüdiger von Fritsch, ist das übrigens in einem Interview mit der russischen Nachrichtenagentur Interfax dieser Tage ganz gut gelungen. Seinem Chef kann man dieses Feingefühl leider nicht immer bescheinigen.