Es ist zu spät. Es wird sich, ich wage die Vorhersage, in einer nicht allzuweit entfernten Zukunft herausstellen, dass tatsächlich russische Soldaten oder von russischer Seite ausgerüstete und ausgebildete Leute momentan den Osten der Ukraine (und damit möglicherweise bald das ganze Land) in einen (Bürger-)Krieg zu treiben versuchen. Es passiert also, wovor auch viele, auch ich, in den vergangenen Monaten und Wochen immer wieder (und nicht erst nun in der Ukraine-Krise) gewarnt haben. Keine ernst zu nehmende Reaktion des Westens auf die jeweils nächste, nun muss ich schon Kreml-Diktion benutzen, Provokation wird den Kreml nur zum jeweils nächsten Schritt ermuntern.
Denn es geht schon längst nicht mehr um den (politischen) Aus- oder Abgleich von Interessen. Es geht um deren Durchsetzung. Und das Wort Interesse bezeichnet nicht (mehr) etwas, das man rational analysieren und mit dem man, im Wortsinne, rechnen kann. Das Wort Interesse bedeutet für die russische Führung um Putin inzwischen, das zu bekommen, was sie wollen. Und sie wollen Revanche. Revanche für eine Erniedrigung (wie real oder eingebildet diese auch immer sein mag).
Zumindest im öffentlichen Diskurs in Russland (wenn wir das kleine Biotop einiger Internetwebseiten und einige kleinere Ecken in den sozialen Netzwerken einmal ausnehmen) existiert nichts mehr außer der Antwort auf diese Erniedrigung, diese narzisstische Kränkung, so riesig wie das Land selbst. Es ist, wie Klaus-Helge Donath heute in der taz schreibt:
„Auf den Cocktail aus imperialer Größe, antiliberalem Denken, Ablehnung des Westens, Traditionalismus, Nationalismus und Überlegenheitsfantasien greifen indes nicht nur marginale Kräfte zu. Er ist nicht nur gesamtgesellschaftlich hoffähig; es gibt schlichtweg keinen anderen öffentlichen Diskurs mehr. Kommunisten, Neofaschisten, Klerikale und Vertreter der Kremlpartei singen alle dasselbe Lied.“
In diesem Denken gibt es keine natürliche Grenze. So wie es in den Köpfen vieler Menschen in Russland keine natürliche Grenze des Landes gibt. Dort gibt nur (noch) den Mythos einer allumfassenden (und von allen anderen ausgehenden) Bedrohung Russlands, der nur durch einen möglichst großen Puffer vorgebeugt werden kann. Möglichst groß aber bedeutet wiederum, dass er eigentlich nie groß genug sein kann.
Donath kommt in seinem Artikel zum Schluss, dass Russland als Teil eines aufgeklärten und demokratischen Europa „auf längere Zeit“ verloren sei, weil sich diese krude Mischung auch in den Köpfen vieler junger Menschen festgesetzt hat (besser: festgesetzt wurde und ständig weiter wird).
Anders, assoziativer, weniger nüchtern, ganz wie es ihrer Profession ziemt, nähert sich die Schriftstellerin Swetlana Alexejewitsch, die Chronistin der Tschernobyler Katastrophe, der gegenwärtigen (ihr widerwärtigen) Stimmung in Russland. Ihr Text in der FAZ ist ein Aufschrei. Aber eben deshalb verdichtend bis zur Übertreibung (obwohl sie die Spitzen zutreffend beschreibt). Denn im Moskauer Leben, in den Cafes und den Küchen, ist von der Hysterie in den russischen Medien nur wenig zu spüren. Die Stimmung ist vielmehr aufgeregt und seltsam unaufgeregt, ja gedämpft zugleich.
Ja, es gibt auch außerhalb der virtuellen Propagandawelt viel Hurrapatriotismus. Aber er erscheint mir, ähnlich wie zu Sowjetzeiten, eher wie eine Mischung aus Glauben und Vorspiegelung. Er ist aggressiv-selbstverteidigend-auftrumpfend und gleichzeitig von Unsicherheit geprägt. Er klagt (den Westen) an und legt sich wie Balsam auf viele erniedrigte Seelen. Trotzdem bleibt bei vielen Menschen die bange Frage, ob das denn auch gut gehe.
Erniedrigt wurden die Menschen in Russland, immer und immer wieder. Meist von den eigenen Machthabern (fast egal welcher politischen Couleur), seltener von anderen. Nur wurden die anderen, die Fremden, meist schnell wieder vertrieben (oft unter größten Opfern). Mit den Eigenen aber müssen die Menschen (weiter) leben. Und momentan wächst gegen sie kein Kraut. So sieht es zumindest aus, so verkünden es die Demoskopen. So redet man es sich selbst ein, weil der Gegensatz zwischen „Volk“ und „Macht“ in Russland angeblich so ewig ist, wie die transsibirische Eisenbahn lang. (Auch) Deshalb war (und ist) es so leicht, die Wut auf diese Erniedrigung nach Westen umzuleiten.
Ist es also tatsächlich zu spät? Dieser Schluss scheint mir dann doch zu pessimistisch. Das, was momentan in Russland passiert, ist alles zu einheitlich (und zu unheimlich), um nicht ein Hype oder, altmodisch ausgedrückt, eine Art Hysterie zu sein. Man könnte es auch eine Kampagne nennen. Immerhin ist Russland das Land der Kampagnen. Wie das funktioniert und weshalb sie (meist) nach gar nicht allzu langer Zeit enden, habe ich vor etwa einem Jahr anhand des „NGO-Agentengesetzes“ zu beschreiben versucht.
Kampagnen sind deshalb gut und schlecht zugleich: Sie halten (erneut und immer wieder: meist) nicht lange vor, aber wenn sie erfolgreich waren, gebären sie ihre Nachfolger. Und die gegenwärtige Kampagne, noch die Krim-Kampagne, ist aus Putins Sicht sehr erfolgreich. So hoch waren die Zustimmungsraten nicht nur für ihn, sondern für das gesamte von ihm geschaffene politische System schon lange nicht mehr. Die Politikmacher im Kreml wissen selbstverständlich von der Vergänglichkeit von Kampagnen. Sie ist eines ihrer Grundprobleme.
Ein zweites Problem ist Haltung der meisten Menschen zum Krieg. Krieg will kaum jemand. Krieg fürchten alle. Das ist vielleicht ein (letzte?) Hoffnung.
Leider wird das vorerst weder der Ukraine noch dem Westen nützen. Jedenfalls nicht zur Rettung der Ukraine als Staat. Und auch der russischen Opposition (die es nur in Rudimenten gibt) wird es nichts nutzen. Und, ich wage noch eine Prognose, Russland wird es nichts nutzen, denn der nun mögliche „(Rück-)Gewinn“ der Ostukraine oder, horribile dictu, der gesamten Ukraine wird den Niedergang des russischen Staates nur kurz aufzuhalten in der Lage sein. Mehr noch. Er wird ihn nicht aufhalten, er wird ihn beschleunigen. Es wird sich alles rächen. Da bin ich sicher.