Inzwischen haben schon mehrer Hundert russicher NGOs (meist unangemeldeten) „Besuch“ von Staatsanwaltschaft, Justizministerium, Steuerbehörde (machnmal auch Polizei, Feuerwehr, Gesunheitsamt und anderen) bekommen. Darüber und über mögliche Hintergründe mehr in den kommenden Tagen. Hier und heute ein Interview mit Arsenij Roginskij, Vorstandsvorsitzender von Memorial, der als ehemaliger Dissident und politischer Gefangener in der Sowjetunion schon viel erlebt hat. Das Interview (hier das russische Original) führte Swetlana Rejter am vorigen Freitag. Die Übersetzung stammt von mir.
Frage: Ist das die erste Prüfung durch die Staatsanwaltschaft bei Ihnen?
AR: Vor einige Jahren sind sie schon einmal gekommen. Aber damals war das etwas Kleines, nichts Ernstes.
Frage: Und diesmal?
AR: Ich fühle mich schon den zweiten Tag hintereinander peinlich berührt. Ich hatte dieses Gefühl gestern und heute hat es sich verstärkt. Ich habe eine Liste aller Publikationen über die gegenwärtig laufenden Prüfungen. Das sind sehr viele. Es gibt noch mehr Briefe und Anrufe. Es ist immer ein bisschen peinlich, wenn es nicht darum geht, was man selber macht, sondern darum, was mit einem gemacht wird. Ich verstehe das natürlich, so etwas sind „Informationsanlässe“, aber mir ist das unangenehm. In den vergangenen drei Wochen haben wir, gemeinsam mit anderen, zwei Bücher heraus gegeben. Sie liegen hier auf meinem Schreibtisch: „Stalins Erschießungslisten“, das ist eine riesige Geschichte mit diesen Erschießungslisten, die Stalin persönlich unterschrieben hat. Und dann ist da noch das in Paris heraus gegebene Album „Der Große Terror“. Das sind Ereignisse, für die man Lebenszeit abgibt, und ich weiß, was ich darüber sagen muss. Aber ins Zentrum der Aufmerksamkeit sind wir nicht wegen etwas Gutem gerückt, das wir getan haben, sondern weil die „Chefs“ mit ihren Drohungen zu uns gekommen sind.
Frage: Wann sind sie gekommen?
AR: Sie sind am Donnerstag Morgen gekommen und sie werden noch sehr lange hier bleiben.
Frage: Womit hängt das zusammen?
Mir scheint, diese Frage zerfällt in zwei Teile. Der erste befasst sich mit dem Sinn der Überprüfungen, der zweite mit den Folgen, die sie für uns haben. Wenn man nach dem Sinn fragt, dann hat der natürlich, wie es immer war, mit der Spitze in den Stalin-Jahren und in den 2000er Jahren erneut verstärkt, mit dem Stereotyp zu tun, dass von oben ins Massenbewusstsein eingepflanzt wird, dass Russland eine Großmacht ist, von Feinden Umgeben, die uns immer irgendetwas Schlechtes wollen. Und im Inneren des Landes arbeitet eine fünfte Kolonne, die für diese Feinde arbeitet.
Das ist ein Grundstereotyp des Stalinismus, dass sich auch nach dem Tod Stalins gehalten hat, in den 1990er Jahren ein wenig schwächer wurde und in den 2000er Jahren einen steilen Wiederaufschwung erlebt. Was macht die Staatsmacht mit diesem Stereoptyp? Sie kann dagegen kämpfen, wenn sie ein demokratisches Land aufbauen will, oder sie kann es unterstützen. Unsere Staatsmacht hat den Kurs gewählt, dieses Stereotyp zu unterstützen. Der Westen ist unser Feind. Die USA sind unser Hauptfeind. Für die Rolle der fünften Kolonne werden unterschiedliche Kräfte benannt. In letzter Zeit sind das NGOs, die Geld aus dem Ausland erhalten. Das ist die Grundidee. Aus ihr ergeben sich die gegenwärtigen hysterischen Gesetze: die Änderungen des Gesetzes über Landesverrat, das Anti-Magnitskij-Gesetz oder das NGO-Gesetz.
Frage: Was halten sie von der Magnitskij-Liste der USA?
AR: Ich fände sie gut, wenn sie sich nicht nur auf Russland beziehen würde. Wenn sich ein solches Gesetz auf eine große Gruppe von Ländern bezöge, dann wäre das ein echter Sieg der Idee der Menschenrechte auch in staatlichem Handeln. Wenn dann auch noch andere Länder solche Liste beschlössen, wäre das überhaupt wunderbar. Aber kommen wir auf unsere Gesetze zurück. Niemand weiß, wie das Gesetz über „ausländische Agenten“ funktionieren soll.
Juristisch ist das unmöglich. Wenn einem das Recht aber egal ist, wenn man es mit den Füßen tritt, die Logik Logik sein lässt und schwarz weiß nennt, dann klappt das natürlich alles. Aber trotzdem ist das alles nicht so einfach. In der allgemeinen Hysterie der vergangenen Monate hören wir andauernd: Wie geht denn das an. Ein Gesetz ist in Kraft getreten und wird nicht beachtet! Allein die Annahme des Gesetzes hat eine Atmosphäre in der Gesellschaft geschaffen, in der NGOs als Feinde aufgefasst werden. Andauernd werden sie als „ausländische Agenten“ beschimpft. Irgendwelche Abgeordnete schreien: „Schaut, diese da sind Agenten. Und jene, jene dort auch!“ Das NGO-Agentengesetz ist zum Angst machen da, um die einen von den anderen zu trennen. Und Mitte Februar hat Putin bei einer internen Versammlung des FSB etwas in der Art gesagt, dass Gesetze nicht angewandt werden. Da war allen klar, welches Gesetz er meinte und seither passiert, was passiert: Die Staatsanwaltschaft in Moskau weist alle regionalen Staatsanwaltschaften an, massenhaften Prüfungen durchzuführen. Wir sind ja nicht allein. Wir sind viele! Ein Vielzahl von NGOs wird überprüft, in ganz unterschiedlichen Formen. In einigen Regionen lesen sie die Publikationen, die hinter den Direktoren im Regal stehen. Sie suchen „Extremismus“. In anderen Fällen verlangen sie den Nachweis, dass die Mitarbeiter nicht an Tuberkulose erkrankt sind und fragen „Sie kommunizieren doch mit der Bevölkerung?“ Wieder anderen sagen sie: „Lassen sie uns mal ihre Räume inspizieren“. Es gab bisher allerdings nirgendwo Durchsuchungen. (…)
Frage: Worin bestehen die Überprüfungen?
AR: Am ersten Tag kamen Vertreter von drei Behörden zu uns: der Staatsanwaltschaft, dem Justizministerium und der Steuerbehörde. Sie erklärten, dass sie eine Organisation mit der Bezeichnung „Internationales Memorial“ prüfen. Sie forderten sehr viele unterschiedliche Dokumente, angefangen mit Satzungen, über Protokolle von Vorstandssitzungen bis zu Beschlüssen über Stellenbesetzungen, Mitarbeiterlisten und Belegen für Gehaltszahlungen. Darüber hinaus die Kassenbücher, Budgets der vergangenen Jahre, Stellungnahmen der Kassen- und der Wirtschaftsprüfer und irgendwelche weiteren Dokumente, von deren Existenz ich bisher nicht einmal geträumt habe, wie z.B. ein „Journal der Bewegung der Arbeitsbücher“.
Frage: Hätten Sie die Herausgabe dieser Dokumente verweigern können?
AR: Ich habe unseren Besuchern die Frage gestellt: „Warum sind Sie gekommen?“. Zur Antwort bekam ich: „Die Generalstaatsanwaltschaft hat den regionalen Staatsanwaltschaften aufgetragen, die Prüfungen durchzuführen.“ Die Beispiellosigkeit dieser Geschichte liegt darin, dass drei solide Behörden gleichzeitig gekommen sind, zusammen. Wir werden ja ohnehin ständig geprüft, aber diese Prüfung ist eine umfassende, vor allem aber unerwartete. Niemand hat sie uns angekündigt. So etwas passiert in den fast 25 Jahren unserer Tätigkeit erstmalig. Warum? Es ist bekannt, dass die Staatsanwaltschaft auf Anzeigen hin tätig wird. Wenn ich mich über sie beschwere, dass sie Drogen verstecken, dann muss die Staatsanwaltschaft reagieren.
Seit Beginn der 2000er Jahre hat der Staat den NGO eine riesige Menge an neue Dokumentationspflichten auferlegt. Soweit ich weiß, kennen kommerzielle Organisationen diese unerhörte Papierproduktion nicht. Nun gut, wir haben jedes Dokument in dreifacher Ausfertigung kopiert, es sind ja drei Behörden. Dabei muss jedes Stück Papier zuerst gefunden werden, dann geprüft, beglaubigt und zum Schluss zusammengebunden, unterschrieben und gestempelt werden. Eine schreckliche Sache! Acht Stunden habe ich am Donnerstag mit den Prüfern gesprochen. Sie haben mir auf jede Frage geantwortet: „Das wissen wir nicht und wollen es noch nicht einmal wissen.“ Trotzdem entsteht der Eindruck, dass sie die Finanzierung aus dem Ausland am meisten interessiert.
Frage: Gibt es eine Frist, wie lange die Prüfungen dauern dürfen?
AR: Wenn es sich um planmäßige Prüfungen handelt, dann wird in dem Prüfbeschluss genau festgehalten, wie lange geprüft werden darf. Aber unangekündigte staatsanwaltschaftliche Überprüfungen können unendlich lange dauern. Das Absurde ist, dass wir jedes Jahr unsere inhaltichen Berichte an das Justizministerium schicken und auf unserer Website veröffentlichen. Die Finanzberichte gehen an die Steuerbehörde. Dort sind alle unsere Finanzierungsquellen genannt. Seit wir unsere bisher letzten Berichte abgegeben haben, hat sich nichts geändert.
Stellen wir uns mal vor, dass sie, sobald sie unsere Dokumente durchgeschaut haben, zum Schluss kommen, wir würden uns „politisch betätigen“. Weil wir ausländische Zuwendungen bekommen – wir bekommen übrigens welche und haben nicht vor, auf sie zu verzichten; zudem habe ich den Prüfern gesagt, bei welchen Stiftungen wir Anträge gestellt haben -, werden sie zu dem Schluss kommen, dass wir uns als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen. Das könnte ein Ergebnis der Überprüfungen sein. Ein anderes wäre ebenso ziemlich widerwärtig. In der enormen Menge von Dokumenten muss es Fehler geben und auch Nachlässigkeiten. Die werden gefunden und damit kann was alles Mögliche machen: Sie können uns anweisen, die Fehler zu verbessern oder auch die Organisation per Gerichtsbeschluss zu machen. Möglich sind auch Kompromittierungen aller Art.
Frage: Gestern ist auch ein Kamerateam von NTW bei ihnen aufgetaucht
AR: Ja, zugleich mit den Prüfern. Oder gröber gesagt: auf ihren Schultern. Wir waren über ihre Unverschämtheit baff erstaunt. (…) Sie sind einfach bei uns mit laufender Kamera eingedrungen und haben Fragen gestellt. Wir dachten erst, dass sie zu den Staatsanwälten gehören. Wir haben dem Kameramann erst freundlich gesagt, dass sie gehen sollen, aber sie dringen weiter, machen Türen auf und filmen alles, bis einer der Staatsanwälte sagt, sie hätten keine Erlaubnis zum Filmen gegeben. Dann sind sie immerhin aus dem Büroraum, in dem wir saßen. Später mussten wir sie lange mit der Polizei aus unserem Gebäude bringen.
Frage: Wenn sie sich als „ausländische Agenten registrieren sollen, werden sie das machen?
AR: Nein, das ist für uns unmöglich. Es geht dabei nicht nur darum, dass das eine Lüge wäre. Und dass das mit Recht nichts zu tun hat. Wir sind doch Memorial. Wir wissen, wie viele Menschen, in welchem Jahr unter Folter gestanden haben, dass sie Spione und ausländische Agenten sind. Wir wissen, wie diese Geständnisse aus ihnen heraus geprügelt wurden. In unserem historischen Gedächtnis hat die Wortverbindung „ ausländischer Agent“ nur diese eine Bedeutung.