In den ersten zehn Jahren nach dem Amtsantritt Wladimir Putins Ende 1999 waren viele russische NGOs in einer widersprüchlichen Situation. Unabhängige NGOs wurden vom Staat einerseits als Bedrohung wahrgenommen, als Vehikel für einen Sturz des Regimes. Andererseits dienten sie dem Kreml als Kommunikationsstrang in die Gesellschaft, da alle anderen Kanäle (Parlament, politische Parteien, Massenmedien) dem Willen der Obrigkeit unterworfen worden waren, der Staatsspitze also nur die eigenen ideologischen Vorgaben widerspiegelten. Dieser Doppelcharakter prägte das Verhältnis Staat-NGOs bis in die institutionellen Regelungen hinein.
Politische Beschleunigungen
Doch im Herbst und Winter 2011 geriet die Situation in Bewegung. Zwei Ereignisse spielten dabei eine herausragende Rolle: die Ankündigung von Putins Wiederkehr als Präsident am 24. September 2011, und am 5. Dezember die Festnahmen von mehreren Hundert Personen, die gegen die massiven Fälschungen bei der Dumawahl am Tag zuvor protestierten. Die Hybris von Putins Rückkehrentscheidung war der Auslöser breiten gesellschaftlichen Unmuts. Die Bedeutung von Wahlen als Ausgangspunkt für politischen Protest war zudem von den Machthabern (aber auch von großen Teilen der Opposition und den meisten Beobachtern) sträflich unterschätzt worden. Das verwundert vor allem angesichts der Rolle, die manipulierte Wahlen im vergangenen Jahrzehnt bei der Entstehung gesellschaftlicher Protestbewegungen in vielen Ländern gespielt haben. Letztlich haben sie auch zu Machtwechseln und der Ablösung semiautoritärer Regime geführt. Eine Erklärung für diese Art kollektiver Blindheit mag in der überwiegenden Wahrnehmung von Geschichte als (Zeit-)Kontinuum liegen. In Wirklichkeit aber „springt“ Geschichte, macht größere und kleinere Hüpfer, in denen sich Entwicklungsprozesse gleichsam beschleunigen. Das gilt besonders für erstarrte politische Systeme (wie es das russische zunehmend ist), die nicht mehr die Fähigkeit oder den Willen haben, auf politische Herausforderungen rechtzeitig und angemessen zu reagieren. Die Gesellschaft in Russland hat sich in den vergangenen Jahren im Innern weit stärker verändert, als oben, auf der Oberfläche zu sehen war. Drei Prozesse, die selbstverständlich nicht völlig unsichtbar waren, deren Bedeutung für die aktuelle gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen aber erst durch den Protest deutlicher wurde, möchte ich besonders hervorheben.
Ich beginne mit dem, was ich „Putins Dilemma“ nenne: Die wirtschaftliche Modernisierung des Landes war, als Voraussetzung zur Wiedererlangung der Großmachtrolle Russlands, von Anfang an Teil der Putinschen Agenda. Allerdings wurde sie immer wieder dem Machterhalt untergeordnet. Auf jede Krise reagierte Putin mit dem Abbau von Beteiligungsrechten und einem Ausbau autoritärer Strukturen. Spätestens mit der Wirtschaftskrise 2008/9 zeigte sich dann, dass eine durchgreifende wirtschaftliche Modernisierung ohne eine politische Öffnung des Systems kaum gelingen kann. Die Enttäuschung über die insbesondere durch Medwedews Modernisierungsrhetorik geweckten Hoffnungen führte dazu, dass sich schon vor den Protesten ab Dezember 2011 immer mehr mobile, aktive, jüngere und gut ausgebildete Menschen von Putin abwendeten. Genau diese Menschen aber müssten eine Modernisierung tragen.
Ein weiterer wichtiger Prozess ist die zunehmende Spaltung der russischen Gesellschaft, wie sie zum Beispiel Natalja Subarewitsch in ihrem Modell von den „vier Russland“, die eher nebeneinander als miteinander leben, eindrucksvoll beschreibt. Es sind dies: die modernen Megapolen Moskau und St. Petersburg sowie einige andere Millionenstädte (in denen eher gegen Putin gestimmt wird); die veralteten Industriezentren und die sogenannten Monostädte (die eher für Putin stimmen, weil Staatstransfers ihren bescheidenen Wohlstand sichern); die Kleinstädte und Dörfer, aus denen die jungen Menschen fortgehen und in denen die Alten früh sterben (hier gibt es kaum noch Hoffnung); die nationalen Republiken und Gebiete, deren soziokulturelle Strukturen sich vom Rest des Landes erheblich unterscheiden (die als Loyalitätsbezeugung eher für diejenigen stimmen, die in Moskau an der Macht sind).
Die dritte, vielleicht noch wichtigere Entwicklung dürfte die zunehmende soziokulturelle Spaltung in ein modern-postmodernes und profanes und ein vormodern-patriarchalisches, in Teilen tief religiöses Russland sein. Diese beiden Russland befinden sich auf dem Weg zu einem Kulturkampf, der die alte Gegnerschaft zwischen „Westlern“ und Slawophilen“, zwischen „Internationalisten“ und den Anhängern des „Sozialismus in einem Land“ unter neuen Bedingungen wieder aufleben lässt. Putin befördert diesen Kulturkampf bewusst und setzt ihn immer stärker als Mittel zum Machterhalt ein. Jüngstes Beispiel ist der Fall Pussy Riot, in dem der Kreml geschickt die Empörung nicht nur von Gläubigen über die „Entweihung“ einer Kirche gegen die Opposition als Ganzes zu wenden und als „kulturlos“ oder gar „antirussisch“ hinzustellen verstand. Zwar ist Putin auch für viele, die eher vormodern-patriarchalischen Werten zuneigen, nicht mehr der segensreiche Führer, der das Land aus einer glorreichen Vergangenheit in eine glorreiche Zukunft führt. Wohl aber versteht er es immer noch erfolgreich, sich als letzte Bastion gegen die (aus Richtung Westen) vorrückende Moderne mit allen damit verknüpften Zumutungen und Ängsten zu präsentieren.
Auf der anderen, der modernen und postmodernen Seite der russischen Gesellschaft hat ein mit der Zeit stärker werdendes Bedürfnis nach klaren Regeln und funktionalen staatlichen Instituten zu einer wachsenden Entfremdung von Putin geführt. Der Protest gegen Putin ist inzwischen auch ein Protest gegen überkommene patriarchalische Formen und Hierarchien, die nicht nur als zunehmend dysfunktional, sondern zudem als kulturell fremd und einengend empfunden werden. Der Protest gefährdet zudem das unausgesprochene, aber für alle offensichtliche Politikverbot.
Der Bürger als politisches Subjekt
Putins Legitimität speist sich zwar einerseits durchaus aus Wahlen (die aber mit zunehmender Amtszeit immer weniger fair und frei geworden sind), andererseits aber auch aus einer Art „Gesellschaftsvertrag“, dessen informeller, niemals explizit ausgesprochener Deal sich verkürzt „Freiheit gegen Frieden und Wohlstand“ nennen ließe. Anders könnte man auch sagen, dass Putin vor einem guten Jahrzehnt dazu angeheuert wurde, das aus den Fugen geratene Russland wieder zusammen zu setzen. Er nannte das zu Beginn seiner Präsidentschaft „die Machtvertikale wieder herstellen“ und „Diktatur des Gesetzes“. Vor die von Putin behauptete schicksalhafte Alternative zwischen seiner Herrschaft und dem Zerfall des russischen Staates gestellt, fielen für die eine Mehrheit der Menschen in Russland lange Zeit „Moral“ und „Politik“ zusammen. Die moralische Legitimation Putins bestand (und besteht teilweise noch immer) in seiner politischen Funktion, Einheit und Ordnung zu stiften und Ordnung zu halten. Auch deshalb konnte er ohne Legitimitätsverlust demokratische Institute wie Wahlen, Parlament, unabhängige Jurisdiktion und Presse abschaffen oder soweit aushöhlen, dass sie ihre Funktionen der gegenseitigen Kontrolle verlieren.
Heute aber, das haben die Proteste des vergangenen Jahres ans Licht gebracht, sieht eine zunehmende Zahl von Menschen in Russland Putin eben nicht mehr als den Mann, der in der Lage ist, die „verabredete“ Ordnung und Wohlstand zu schaffen oder zu wahren. Auch daher rührt die Sprengkraft des Wahlbetrugs im Winter 2011/2012. In solchen Krisenzeiten erscheinen dann neue gesellschaftliche und auch politische Akteure wie aus dem Nichts.
Wichtigstes Element der Putinschen Herrschaft ist das oben schon erwähnte Politikverbot. Der machterhaltende Sinn der „gelenkten Demokratie“ ist, dass es keine unabhängigen politischen Kräfte außerhalb des Kremls geben darf. Entsprechend durfte sich unabhängige Opposition nur jenseits von „Politik“ (hier verstanden als die öffentliche Auseinandersetzung um Macht) artikulieren. Wer sich nicht daran hielt, wurde marginalisiert oder war, mit der Zeit immer schärferen staatlichen Repressionen ausgesetzt. In dieser Situation wurden die NGOs, deren Arbeit erst einmal als „nicht politisch“ gilt, zu einer Art Ersatzopposition, wenn auch mit stark eingeschränkten Funktionen. Vor allem NGOs boten so vom Staat geduldete öffentliche Räume, in denen unter dem Deckmantel, dass man sich ja nicht politisch betätige, über Politik diskutiert und, wenn auch in engen Grenzen, politisch gehandelt werden konnte. In den vergangenen Jahren haben die sich rasant ausweitenden sozialen Netzwerke im Internet einen immer größer werdenden Teil dieser Funktion übernommen. Der Staat ließ diesen Freiraum zu, solange aus seiner Sicht von dort keine Gefahr für den Machterhalt drohte. Diese Zeit könnte bald vorbei sein.
Aus der Not, keine politische Autorität zu haben, machten und machen die „unpolitischen“ NGOs in Russland also eine Tugend: Sie verstehen sich meist nicht als „politisch“, sondern von vornherein als „moralisch“. Diese Moral erlangt im günstigsten Fall politische Autorität, die sich im Erfolgsfall im Entstehen und der Institutionalisierung neuer Normen und Praktiken, mit der Zeit sogar in neuen Institutionen niederschlägt. Der autoritäre Staat reagiert auf diese Nicht-Politik oder Antipolitik immer dann, wenn sie aus seiner Sicht zu öffentlich, zu offen politisch zu werden droht, oder zu wirkungsmächtig. Oder wenn er eine solche Möglichkeit antizipiert, wie beispielsweise 2006, als der russische Staat in der Folge der sogenannten orangenen Revolution in der Ukraine (egal ob die Gefahr nun real ist oder eingebildet war) mit einem verschärften NGO-Gesetz reagierte. Oder mit dem sogenannten NGO-Agentengesetz in diesem Sommer, das sich ausdrücklich gegen „politisch“ engagierte NGOs mit Finanzierung aus dem Ausland richtet. Mit solcher Reaktion soll die Politik zurück in den privaten Untergrund gezwungen werden, in dem sie sich konstituierte. Dieses Schema wiederholt sich, solange gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Probleme, die häufig zugleich Beteiligungsprobleme sind, nicht gelöst werden.
NGOs und die politischen Entwicklungen seit Herbst 2011
Die politischen Entwicklungen seit dem Herbst 2011 haben, entgegen aller Bemühungen des Kremls, öffentliche Politik nach Russland zurück gebracht. Die NGOs verloren in diesem Prozess sehr schnell weitgehend ihre Funktion als Ersatzopposition, da es nun ja wieder eine echte gab (und geben konnte). Viele NGOs wurden dadurch zum Nachdenken über ihre gesellschaftliche und politische Rolle gezwungen. Ihre anfangs wichtigste, weil völlig unerwartete Erfahrung war, dass die plötzliche Wiederkehr öffentlicher Politik nicht zu einem wachsenden Einfluss der NGOs geführt hat, sondern eher zu einem politischen Bedeutungsverlust. Die NGOs haben zwar lange das oppositionelle Fähnlein hoch gehalten, spielen aber als Organisationen in der neu entstandenen Oppositionsbewegung kaum eine Rolle. Diese neue Opposition ist bisher mehr ein Zusammenschluss öffentlich bekannter Personen als eine Koalition von Organisationen. Allerdings entstehen langsam wieder politische Parteien. Einige wenige NGO-Führungspersönlichkeiten konnten in der Oppositionsbewegung einen gewissen Einfluss bewahren, aber nur, weil sie schon zuvor öffentliche, bekannte Persönlichkeiten waren, und wohl kaum, weil sie als Vertreter von NGOs auftraten. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten immerhin menschliche, infrastrukturelle und organisatorische Ressourcen, die viele NGOs der neuen Oppositionsbewegung zur Verfügung stellen konnten. Diese eher schwache Rolle bei den Protesten schützte die NGOs aber nicht davor, Anfang des Sommers ebenfalls zum Ziel der erneut einsetzenden staatlichen Formierungs- und Repressionsversuche zu werden.
Bis zum vergangenen Herbst sind die meisten Beobachter davon ausgegangen, dass eine Art „Trägheitsszenario“ die wahrscheinliche Entwicklung Russlands am besten beschreibt. Wesentliche Änderungen im Putinschen System schienen unwahrscheinlich. Die Folge wäre dann ein langsamer Erosionsprozess, der aber noch eine ganze Weile ohne ernsthafte Bedrohung für Putins Herrschaft würde anhalten können. Die Beschleunigung der politischen Entwicklungen seit Herbst 2011 haben diese Überlegungen nun viel schneller obsolet werden lassen als damals angenommen werden konnte. Die große Verunsicherung, die sie bei den Machthabern ausgelöst haben, und die repressiven Gegenmaßnahmen machen ein in vielen Szenarien beschriebenes „weiter so“ – also eine wie bisher austarierte Politik von „so viel Repression wie (zum Machterhalt) nötig“ und „soviel Freiheit wie (ohne Machtverlust) möglich“ – immer unwahrscheinlicher. Für dieses „weiter so“ dürften wohl auch, ich erinnere an „Putins Dilemma“, die materiellen Ressourcen absehbar nicht ausreichen. Im Herbst 2012 zeichnet sich ein grundlegender Strategiewechsel Putins ab. Vom Präsident aller Russen, der das Land eint (nicht umsonst heißt die Kremlpartei „Einiges Russland“), wandelt er sich zum Präsidenten einer konservativen, antiwestlichen, in großen Teilen vor oder antimodernen Mehrheit. Der Minderheit drohen politische Repressionen. Doch die hier beschriebenen Änderungen der russischen Gesellschaft werden mittelfristig selbst mit repressiven Maßnahmen kaum einzudämmen sein. Die Dinge sind in Bewegung geraten und werden so schnell nicht wieder anhalten.
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Dieser Artikel ist zuerst in den Russlandanalysen Nr. 245 vom 19.10.2012 erschienen