Vor rund einem Jahr, am 24. September 2011 verkündete der damalige Präsident Dmitrij Medwedjew auf einem Parteitag der Kremlpartei Einiges Russland, er halte Wladimir Putin für den besseren Präsidenten, weshalb er ihn als Kandidaten für die kommenden Wahlen im März 2012 vorschlage. Im übrigen, so fügte er später hinzu, habe man den erneuten Ämtertausch schon vier Jahre zuvor vereinbart, als Putin zugunsten Medwedjews zurückstand. Ein echtes Gentlemanagreement. Nur mit dem Fehler, dass viele Menschen, jedenfalls weit mehr als bis dahin gedacht, dem sogenannten Duumvirat, soviel Hybris übel nahmen. Die darauffolgenden Entwicklungen sind bekannt.
Auch Putins Stern ist seither im Sinken begriffen. Nach einer Langzeitumfrage des Levada-Zentrums sinkt die Zustimmung zu ihm kontinuierlich. Von einem Hoch nach dem Georgienkrieg 2008, als 70 Prozent der Befragten erklärten, die vertrauten Putin, und nur 8 Prozent, sie vertrauten im nicht, ging es stetig abwärts. Im September 2012 sprechen nur noch 41 Prozent Putin ihr Vertrauen aus, während ihm 25 Prozent misstrauen. Selbst das jedes Mal bei Wahlen zu beobachtende Propaganda- und Soziale-Wohltaten-Hoch fiel in diesem Frühjahr deutlich kleiner aus als vier und acht Jahre zuvor und hielt, ebenfalls im Gegensatz zu den Wahlen zuvor, kaum wenige Monate an.
Nun sind 41 Prozent Vertrauen immer noch mehr als 25 Prozent Misstrauen. Ein kurzfristiger Machtverlust ist wenig wahrscheinlich, auch weil Putin nach den Winterprotesten die Schrauben schnell und hastig immer weiter anzieht. Das noch vor dem Sommer neugeschaffene repressive Gesetzesarsenal (Demonstrationsgesetz, sogenanntes „NGO-Agentengesetz“, Internetsperren usw.) ist beeindruckend und kaum aus dem Urlaub zurückgekehrt, hat sich die kremlkontrollierte Duma bereits an neue Gesetze gemacht (u.a. Ausweitung von Staatsverrat/Spionage, Verletzung von religiösen Gefühlen). Das Oberste Gericht erklärte diese Woche, jedweder Widerstand gegen die Staatsgewalt, selbst wenn diese im Unrecht sei, sei eine Straftat. Weiteres ist zu erwarten.
Angesichts dieser Drohkulisse ist es kaum vorstellbar, dass die Folterwerkzeuge alle in ihren Scheiden und Köchern bleiben. Oder wie ein Freund das ausdrückt: Putin habe die Axt gehoben. Nun müsse er auch zuschlagen. Die Frage sei nur, wen und was er treffe. Und ob es vielleicht gelinge, den Schlag noch ein wenig abzumildern oder abzulenken.
Doch bevor diese zumindest kurzfristig, vielleicht auch mittelfristig eher düstere Zukunft eintritt, möchte ich einen kleinen Blick zurück werfen, auf eine damit verbundene, aber verpasste Chance. Ich war von Beginn an skeptisch, dass Medwedjew, als er 2008 Präsident wurde, liberaler, demokratischer sein würde als Putin zuvor. Ein Teil dieser Skepsis speiste sich aus der Überzeugung, Putin bleibe ohnehin der starke Mann, Medwedjew sei also nicht selbständig. Ein Teil erwuchs aus der Vermutung, der Bürokrat Medwedjew sei Fleisch vom Fleisches dieses Regimes, seine Vorstellungen von Demokratie seien bestenfalls Ableitungen seiner Vorstellungen vom Staat und deshalb werde der Staat immer vor der Demokratie kommen.
Einige KollegInnen und FreundInnen (sowohl in als auch außerhalb Russlands) waren optimistischer. Sie sahen (wahlweise) in Medwedjew einen Erneuerer mit genuin liberalen Ideen oder zumindest ein Vehikel, diesen Ideen – vielleicht sogar gegen seine eigenen Intentionen – einen Push zu geben. Auch sie hielten die Realisierungschancen für eher klein, verwiesen aber gleichzeitig auf fehlende Alternativen. Also setzten sie auf Zusammenarbeit, wenn auch vorsichtige, mit dem Kreml zur Zeit der Präsidentschaft Medwedjews. Von heute, vom Ergebnis aus betrachtet habe ich Recht behalten, was aber nicht heißt, dass ich auch 2008 oder 2009 schon Recht hatte. Vielleicht hat es die beschriebene Chance gegeben. Ich würde sogar noch weiter gehen. Vielleicht sind diejenigen, die sich für eine, wie begrenzt auch immer, Zusammenarbeit mit Medwedjew eingesetzt haben, realistischer (durchaus im Böllschen Sinne) gewesen als die Skeptiker, also auch als ich.
Die meisten Menschen und auch viel der politischen Akteure in Russland, die einen Wandel wollen, fürchten gleichzeitig eine Revolution. Wandel ja, aber als Reform, auf evolutionäre, nicht auf revolutionäre Weise. Dahinter steht die Überzeugung, dass bei Revolutionen (zumindest in Russland) am Ende selten bis nie liberale und demokratische Kräfte die Oberhand behalten haben, sondern radikale und mehr oder weniger menschenverachtende. Vielleicht war die Präsidentschaft Medwedjew das Gelegenheitsfenster, das berühmte Window of Opportunity, doch noch evolutionär, reformerisch die Kurve zu kriegen. Mit der Rückkehr Putins (s.o.) schließt sich dieses Fenster oder hat sich bereits geschlossen. Je länger es mit Putin noch „gut“ geht umso unwahrscheinlicher, so befürchte ich, wird ein friedlicher Übergang zu einer weniger autoritären Form von Herrschaft.