Putins Probleme: Alles wie immer und doch ganz anders

Am 7. Mai wurde Vladimir Putin zum dritten Mal als russischer Präsident vereidigt. Am 9. Mai nahm er die traditionelle Siegesparade auf dem Roten Platz ab. Die Wahlen sind überstanden. In der Duma hat die Kremlpartei „Einiges Russland“, wenn auch mit erheblichem Fälschungsaufwand, eine absolute Mehrheit bewahrt. Putin selbst kam, nach offiziellem Ergebnis, sogar erneut auf fast zwei Drittel der Stimmen bei den Präsidentenwahlen. Nun scheint Putin, gestützt auf die Macht des Faktischen, zumindest vorerst, vielleicht gar für die kommenden sechs Jahre sicher im Kreml zu sitzen. Also alles zurück auf „Los“, auf die Zeit vor den gefälschten Duma-Wahlen Anfang Dezember 2011?

Putins Gesellschaftsvertrag

Auf den ersten Blick mag das tatsächlich so aussehen. Doch ein näherer Augenschein lässt Putins Aussichten weit weniger rosig erscheinen. Keines der wirtschaftlichen Probleme ist gelöst. Die Wirtschaft kommt nach den Krisenjahren 2008 und 2009 nicht wieder so recht in Gang. Alle seriösen Wirtschaftsexperten bis weit in die Regierung hinein sind sich einig, dass der russischen Wirtschaft ohne eine grundlegende Modernisierung ihrer Struktur, also vor allem ohne eine Überwindung der überwältigenden Abhängigkeit von Rohstoffexporten, schwierige Zeiten bevorstehen.

Wie groß die Abhängigkeit weiter ist, zeigte sich gerade wieder im Mai, Putins erstem Monat als Erneut-Präsident. Der Ölpreis begann aufgrund schlechter Wirtschaftsdaten aus der Eurozone, den USA und sogar aus China zu fallen und zog sofort den Rubel mit sich. Gegenüber US-Dollar und Euro verlor der Rubel über 13%, in der letzten Maiwoche gar gleich 6%. Nun wurde Putin aber vor allem gewählt, soziologische Untersuchungen bestätigen das, um Stabilität zu gewähren, an erster Stelle wirtschaftliche.

Die Notwendigkeit einer Modernisierung wird daher auch von Putin gesehen und ist Teil seines Programms. Doch da in den vergangenen Jahren außer immer wiederkehrenden Beschwörungen wenig passiert ist, schwindet seit einiger Zeit der Glaube in der Bevölkerung, ausgerechnet Putin könne den Umschwung in Gang setzen. Dagegen spricht auch die unter seiner Regierung immer enger gewordene Verflechtung der politischen und der wirtschaftlichen Elite oder, wie es Dmitrij Trenin, Direktor des Carnegie Moscow Centers, vor einigen Jahren schon ausdrückte: „The same people who rule the country, own it“. Putin, einst angetreten, die „Oligarchen“ der Jelzin-Ära von der Macht zu vertreiben, hat ein System geschaffen, auf das die Bezeichnung Oligarchie weit eher passt als auf das Russland der zweiten Hälfte der 1990er Jahre.

Dieses von Putin in den 2000er Jahren geschaffene politische System ist oft als ein ungeschriebener Gesellschaftsvertrag beschrieben worden. Sein Inhalt lautet kurz gefasst wie folgt: Ihr da oben sorgt für Stabilität und dass wir hier unten einigermaßen ein Auskommen haben; dafür mischen wir hier unten uns nicht in die Politik ein und drücken beide Augen zu, wenn ihr da oben euch immer mehr bereichert. Abgesehen davon, dass Putin ohne Modernisierung absehbar die Mittel für diese Politik ausgehen, ist dieser Pakt (wenn es ihn denn gegeben hat) im vergangenen Winter schon von einem großen Teil der Bevölkerung politisch aufgekündigt worden.

Putin reagierte darauf mit einer Doppelstrategie. Zum einen gab es Entgegenkommen in Form kleinerer Reformen des politischen Systems (u. a. Reform des Parteiengesetzes, Wiedereinführung von Gouverneurswahlen). Auf der anderen Seite setzte der Kreml ganz offensichtlich darauf, dass die Proteste nach den von Putin gewonnenen Präsidentenwahlen rasch abflauen würden. Doch das ist nicht geschehen. Im Gegenteil. Umfragen und Untersuchungen zeigen vielmehr, dass sich die Unzufriedenheit mit der politischen Führung in allen Bevölkerungsschichten verstärkt. Entsprechend reagiert die politische Führung mit – bisher leichten – Repressionen: Nachdem es im ersten Quartal 2012 fast keine Verhaftungen bei Demonstrationen gab, sind zahlreiche Festnahmen bei jeder Kundgebung seit Anfang Mai erneut die Regel. Das Demonstrationsrecht ist verschärft worden.

Erneut, so scheint es, unterschätzt der Kreml wie schon im Dezember die untergründigen Veränderungen in der russischen Gesellschaft. Drei Gründe lassen sich für diese Entwicklung anführen: die fragile Legitimität des Regimes, eine nach langem Dornröschenschlaf erwachende Bürgergesellschaft und die Abnutzung des politischen Spitzenpersonals einschließlich Putins.

Fragile Legitimität

Die Bewertung der Parlamentswahlen durch unabhängige Beobachter war eindeutig. Diese Wahlen waren weder fair noch frei. Oppositionelle Parteien wurden nicht zugelassen. Die wichtigsten Massenmedien waren auf Seiten von „Einiges Russland“. Während der Stimmabgabe und bei der Auszählung wurde massiv zugunsten von „Einiges Russland“ gefälscht. Ohne diese Manipulationen hätte die Partei die absolute Mehrheit weit verfehlt. All das macht dieses Parlament und seine Entscheidungen in den Augen einer wachsenden Anzahl von Menschen illegitim.

Mit Putins Wahl zum Präsidenten Anfang März ist die Sache ein wenig komplizierter. Zwar wurde, auch dank des Skandals um die Parlamentswahlen und einer großen Zahl freiwilliger Wahlbeobachter, weit weniger direkt gefälscht als bei den Parlamentswahlen im Dezember. Und selbst unter Einrechnung dieser Fälschungen hätte Putin wohl mehr als die zur Wahl notwendigen 50% der abgegebenen Stimmen erhalten. Zu diesem Schluss kommt auch die wichtigster russische Wahlbeobachtungs-NGO Golos. Vor allem mit Hinweis auf Golos argumentieren zahlreiche Beobachter, es gebe in Russland weiterhin eine sog. „Putinmehrheit“ und der Präsident sei damit ausreichend legitimiert und handlungsfähig.

Doch diesen Schluss kann man füglich in Frage stellen. Denn auch Putins Mehrheit kam in einer Wahl zustande, deren Gang der spätere Sieger von Anfang bis Ende bestimmte. Von Putin stammen die diskriminierenden Gesetze, nach denen Kandidaten zugelassen werden oder eben nicht. Der Kreml kontrolliert das immer noch überragend wichtige Fernsehen (obwohl das weitgehend freie Internet aufholt und bei den Protesten eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt). Vor allem aber besteht (oder bestand bis zum Dezember) ein faktisches Verbot für öffentliche Politik ohne Kremlerlaubnis. Und ohne öffentliche Politik können sich weder neue Politiker entwickeln, noch bekannt werden. Putin hat also dafür gesorgt, nicht gegen einen ihm wirklich gefährlich werdenden Gegner antreten zu müssen. All dies delegitimiert auch ihn inzwischen in den Augen einer auch zahlenmäßig kaum mehr zu vernachlässigenden Gruppe von Bürgern.

Erwachende Bürgergesellschaft

Die Ereignisse des vergangenen Herbstes und Frühjahrs haben zu einer Beschleunigung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse geführt, die seit einigen Jahren im Gange sind. Das geschah in zwei Schritten: Erst verlor Putin den Nimbus des alles könnenden Helden. Dann tauchten, vorerst auf kommunaler und regionaler Ebene Politiker auf, die nicht mehr von ihm abhängen und mit der Zeit zu Alternativen werden könnten.

Michail Dmitrijev, Direktor des Zentrum für strategische Ausarbeitungen, eines der Regierung nahestehenden Think Tanks, beschreibt diesen Prozess als einen der De-Ideologisierung politischer Forderungen. Nicht mehr die Zugehörigkeit von Politikern zu einem ideologischen Lager spiele für viele Menschen die entscheidende Rolle, sondern seine „Modernität“, die sich sowohl in einem eher partizipativen Habitus als auch in der Fähigkeit zu praktischen Lösungen politischer Probleme jenseits ideologischer Schemata ausdrücke. Zu diesem „neuen“ Typ von politischen Führern zählt Dmitrijev z. B. den ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin, der nicht wegen seiner liberalen Ansichten hohe Zustimmungswerte bekomme, sondern weil er in der Wirtschaftskrise „das Richtige“ getan und damit Russland gut durch die Krise gebracht habe. Interessanterweise wird dieser Erfolg weniger dem damaligen Präsidenten Dmitrij Medvedev oder dem damaligen Premierminister Putin zugeschrieben.

Zur neuen bürgerlichen Reife großer Teile der russischen Gesellschaft gehört auch eine zu beobachtende sinkende Anfälligkeit für nationalistische Propaganda. Nationalistische Politiker bekommen zwar weiterhin viel Zustimmung für ihre Thesen, aber immer weniger Menschen wollen sie in politischen Führungspositionen sehen. Auch hier zeigt sich eine immer stärkere Nachfrage nach funktionierenden Institutionen und klaren Regeln. Dem entsprechen auch die wichtigsten, in Umfragen immer wieder genannten Politikfelder: Gesundheit, Bildung, Infrastruktur, gute Verwaltung.

Abnutzung des politischen Spitzenpersonals

Vor der Wahl schrieb Putin sieben programmatische Artikel. Darin erweckte er den Eindruck, als schreibe hier ein oppositioneller Politiker. Doch Putin ist seit zwölf Jahren an der Macht. Drei große Reformankündigungswellen gab es, jeweils um die Präsidentenwahlen herum. Nachhaltige Reformen kamen dabei, abgesehen von einer kurzen Phase während Putins erster Amtszeit, nicht heraus. Im Gegenteil: Das politische System verschloss sich immer mehr, die Korruption wuchs. Gerettet hat Putin vor allem das Anwachsen der Öl-, Gas- und Rohstoffpreise bis 2008. Dies (die Steigerungen, nicht die hohen Preise) ist vorbei und wird wohl kaum wieder kommen. Dazu ist das Preisniveau inzwischen zu hoch. Andere, innere Ressourcen fehlen weitgehend. Das Land ist alt und altert weiter.

Hinzu kommt, dass immer weniger Menschen glauben, dass Putins Regierung willens und in der Lage ist, ein Reformprogramm umzusetzen. Im Gegensatz zu den Wahlen 2000 und 2004 wurde Putin weniger gewählt, weil sich mit ihm bestimmte politische Hoffnungen verbinden, sondern vor allem, „weil es keine Alternative gibt“. Damit ist auch schon ein weiteres Problem des neu-alten Präsidenten Putin beschrieben: lange an der Macht zu sein nutzt ab.

Bis vor zwei Jahren zeigten Umfragen unter Putins Unterstützern eine große Anzahl von echten „Fans“, also Menschen, die davon überzeugt waren, dass Putin und nur Putin in der Lage sei, das Land zu führen. Putin war eine Art Held. Er konnte mit freiem Oberkörper seine Muskeln zeigen, am Steuer eines Löschflugzeugs Waldbränden zu Leibe rücken oder einen Tiger mit einem Betäubungsgewehr in die Narkose schicken. Die Reaktion vieler Menschen darauf war: Was für ein Kerl! Inzwischen sind die „Fans“ fast verschwunden. Entsprechend hat sich die Stimmung verändert. Putins Zuschaustellungen von harter Männlichkeit und Allgeschick wirken auch in Russland zunehmend lächerlich.

Das ist vor allen Dingen gefährlich, weil das gesamte politische System in Russland an der Popularität von Putin hängt. Bisher konnte sich Putin als der Retter von Land und Leuten vor den Fehlern des von ihm geschaffenen politischen Systems inszenieren. Und das mit Erfolg. Doch während früher auch in der öffentlichen Meinung nie Putin Schuld war, sondern unfähige Untergebene oder böse auswärtige Mächte, bleiben politischen Misserfolge nun immer öfter auch am obersten Führer selbst hängen.

Putins Dilemma

Sergej Karaganov, ein dem Kreml nahe stehender Außenpolitikexperte, schrieb noch vor den Wahlen einen Artikel mit dem Titel „Russland hat wieder Glück”. Darin argumentierte er, Putin und die gegenwärtige politische Führung sollten den Protesten und den Protestierenden dankbar sein, weil sie sie zu eben den Reformen drängen, von denen sie selbst schon lange wüssten, dass sie unausweichlich seien, zu denen sie sich aber nicht entschließen könnten. Putins Dilemma ist jedoch, dass er dazu genau die Menschen braucht, die jetzt gegen ihn auf die Straße gehen: die Jungen, die Mobilen, die gut Ausgebildeten, die Aktiven. Es kann daher gut sein, dass Putin den Zeitpunkt verpasst hat, zu dem er diese Leute mit ins Boot hätte holen können. Oder besser: Er hat sie aus dem Boot getrieben, eben weil er keine politischen Reformen will, die seine Macht gefährden. So wie es aussieht, ist sie aber ohne politische Reformen auch bedroht.

Ein ähnliches Dilemma besteht seit langem in der Außenpolitik: Putins Grundimpuls ist antiwestlich. Gleichzeitig ist es aber der Westen, dessen Geld, dessen Know-how und dessen Investitionen für die Modernisierung Russlands gebraucht werden. Ohne Modernisierung bleiben ja auch alle Großmachtträume unerfüllt. Wahrscheinlich wird auch hier Putins Russland stachelig bleiben, so wie im Falle Irans und Nordkoreas. Und wenn es mal einen mutigen Schritt gibt, wie bei der Enthaltung zur UN-Sicherheitsratsresolution zu Libyen, dann folgt der umgekehrte Pendelschlag gewiss. Das Ergebnis ist die Tragödie um Syrien. So wird sich Putins Russland wohl auch weiter nicht entscheiden können, ob es nun Freund oder Feind des Westens sein will.

Selbst wenn sich äußerlich wenig in Russland geändert zu haben scheint, so sind die Menschen doch andere geworden und zeigen es zunehmend öffentlich. Wahrscheinlich ist trotzdem oder vielleicht gerade deshalb im Inneren auch künftig mit einer Politik von Zuckerbrot und Peitsche zu rechnen – von Angeboten zur Zusammenarbeit, aber auch der Verweigerung wirklicher Beteiligung und Veränderung. In der russischen Diskussion nennt man das auch das „Trägheitsszenarium“. Eine Weile kann das noch gut gehen, auf die Dauer aber wohl nicht.

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Dieser Artikel wurde für die Zeitschrift „Religion und Gesellschaft in Ost und West“ geschreiben und ist in der Juli/August-Ausgabe erschienen. Er stellt größtenteils eine Zusammenfassung von in diesem Blog schon in unterschiedlichen Posts behandelten Gedanken, allerdings auch einiger neuer, dar.