Ein ultramoderner russischer Sinnspruch geht so: Demonstrieren ist ein Verfassungsrecht, dass eine Ordnungswidrigkeit darstellt und wie ein Verbrechen bestraft wird. Wladimir Putin hat am Freitag das in beispielloser Eile verschärfte Demonstrationsgesetz unterschrieben. Offenbar, damit es vor dem 12. Juni, dem kommenden Dienstag in Kraft tritt, an dem die nächste Großdemonstration gegen ihn und seine Regierung geplant ist. Möglichst viele Menschen sollen davor abgeschreckt werden, auf die Straße zu gehen. Und diejenigen, die trotzdem demonstrieren werden, müssen mit harten Strafen rechnen. So richtig souverän wirkt das alles nicht, eher schon panisch. Oder Putin schätzt erneut die Stimmung im Land und seine schwindenden Möglichkeiten falsch ein. Zuerst zu Letzterem.
Das Putin seinen legendären „Riecher“ verloren hat, konnten wir seit dem 24. September vorigen Jahres mehrfach beobachten. Aber vielleicht ist es gar nicht die Fähigkeit, eine Situation strategisch richtig einzuschätzen, die ihm verlorenen gegangen ist, sondern vielmehr hat sich einfach die Lage soweit geändert, dass die üblichen, die gewohnten, die bis voriges Jahr (fast) immer erfolgreichen Methoden nicht mehr wirken. Putin hat seit rund 10 Jahren immer aus einer Position der Stärke handeln können, die sich nicht nur aus der faktischen Macht des Staates und seiner Sanktions-, Repressions- und Propagandainstrumente speiste. Er konnte sich auch auf die weit im Land verbreitete Hoffnung stützen, unter ihm (und nur unter ihm) werde es (immer) besser. Doch diese Hoffnung ist in den vergangenen Jahren weitgehend verschwunden.
Nach Umfragen des Levada-Zentrums ist in den vergangenen drei Jahren die Zahl der auswanderungsbereiten Russen von 13 auf 20 Prozent gestiegen. 50 Prozent der Menschen geben an, ihre Zukunft nicht weiter als einen Monat vorausplanen zu können und nur 4 Prozent schauen „optimistisch“ in die Zukunft. Zwar sehen die meisten Menschen bisher keine Alternative zu Putin, aber auch mit Putin sehen sie eben schwarz. Bei dieser Stimmung ist es nicht so wichtig, ob nun schon eine Mehrheit ist gegen Putin ist oder (noch) nicht. In einem populistischen Regime wie dem gegenwärtigen russischen muss der Führer (oder manchmal auch die Führerin) immer größer, besser, weiser sein, muss es einen Überschuss an Popularität gegen, damit politische Entscheidungen durchgesetzt werden können, da die dysfunktionalen (die zum Machterhalt dysfunktional gemachten!) Institute die ansonsten entstehende Autoritätslücke nicht füllen können. Personenkult ist halt nicht nur Folklore.
Es ist erst dieser Überschuss, der es möglich macht, aus einer Position der Stärke zu handeln. Dabei ist wahrscheinlich immer ein Anteil von Täuschung, ein Anteil von münchhausenscher Suggestion mit im Spiel, der den Herrscher eben weil er Herrscher ist, der den Sieger, eben weil er Sieger ist, der den Erfolgreichen, eben weil er Erfolg hat, noch stärker erscheinen lässt als er tatsächlich ist. Nunschwindet der Überschuss dahin und der König ist zwar noch nicht nackt, aber die Unterwäsche lugt schon hässlich durch das fade und löchrige Gewand.
Sollte diese Einschätzung richtig sein, und dafür spricht vieles, dann ist Putins neuerlicher Versuch, Stärke zu zeigen, einzuschüchtern, mit großer Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt (wie auch Konstantin von Eggert meint). Schon seine Taktik nach den Protesten im Winter, ein paar (Schein-)Zugeständnisse und hartes Durchziehen der Präsidentenwahlen mit ihm als Sieger) hat nicht so recht funktioniert. Die Proteste sind nach Putins Wahlsieg im März entgegen vielfacher Voraussagen aus dem Regierungslager und Befürchtungen der Opposition nicht zurück gegangen. Im Gegenteil haben sie begonnen, sich zu institutionalisieren und überzugreifen.
Allerdings hatte Putin bisher einen großen Vorteil, den er jetzt verspielen könnte. Im Januar schon fragte er höhnisch, wer das denn sei, die angebliche Opposition, ob sie denn ein Programm habe? Und Personen, Politiker, die sie vertreten könnte. Tatsächlich ist das bis heute ein Problem, dass verallgemeinerbare politische Forderungen jenseits von „Putin weg!“ nicht zu sehen sind. Da gibt es einerseits die Politprofis noch aus der bleiernen Zeit vor dem 4. Dezember 2011, die zwar kurzzeitig zu Helden des Protests wurden als in einer ersten Reaktion der Staat viele DemonstrantInnen verhaften ließ, in denen aber, soweit das zu beurteilen ist, die breite Masse der Protestierenden und der sie Unterstützenden nicht ihre künftigen RepräsentatInnen sieht.
Auf der anderen Seite gibt es eine ganze Reihe von angesehenen öffentlichen Personen, SchriftstellerInnen, JournalistInnen, KünstlerInnen, die den Protest auch angeführt, ja ihn mit aus der radikaloppositionellen Ecke geholt haben. Doch sie fürchten das böse „P“-Wort wie der Teufel das Weihwasser. „Politik“ wollen sie nicht machen. Sie wollen sauber bleiben. Und die Umfragen geben ihnen scheinbar recht. Kaum jemand hat so wenig Ansehen wie PolitkerInnen in Russland. Und da unterscheiden die Menschen kaum zwischen Macht und Opposition.
Es könnte aber sein, dass es gar nicht so sehr die Forderungen sind als vielmehr die Formen, die heute die entscheidende Rolle spielen. Die neuen Repressionen setzen genau zu dem Zeitpunkt ein, als in Moskau die OccupyAbay-Bewegung zu einer Art Institution zu werden versprach. Das waren die Lager am Moskauer Boulevardring, in denen sich so eine Art verfrühte Sommeruniversität formierte, eine Vielzahl von Diskussionsplattformen, Vorlesungen und Workshops. Sie begannen, den städtischen Raum zu füllen, den die Mächtigen gerne leer und gesäubert sehen. Symbolisch dafür steht die fast menschenleere Moskauer Innenstadt am Tag der Inauguration Putins. So groß war die Angst, Bürger könnten diese erneute Inbesitznahme des Kremls durch Putin stören, dass eine riesiges Polizeiaufgebot die Stadt buchstäblich leerfegte.
Doch vielleicht sind all diese Überlegungen viel zu ziseliert, viel zu fein gesponnen. Vielleicht ist es einfach Angst, Angst vor dem Kontrollverlust, der zum erneuten Anziehen der Repressionsschraube führt. Warum sonst die Hastigkeit? Insgesamt 12 jungen Menschen wurden inzwischen festgenommen, davon 9 in der vorigen Woche, weil sie angeblich in die Auseinandersetzungen mit der Polizei am 6. und 7. Mai verwickelt sind. Gemessen an den Anklagepunkten drohen ihnen allen mehrjährige Lagerhaftstrafen.
Noch mehr gilt die Hast dem Demonstrationsgesetz. Unter Verletzung einer ganzen Reihe von Gesetzgebungsnormen (jede für sich würde bei einer normalen Gerichtsbarkeit gute Aussichten bieten, das Gesetz zu Fall zu bringen) wurde das Gesetz durch die Staatsduma gepeitscht. Es war eine weitgehend im Internet übertragene Demonstration der Lächerlichkeit (hier ein kleiner Zusammenschnitt im Internet-TV „Doshd“), wie in 12-stündiger Parlamentssitzung immer absurdere Redezeitverkürzungen beschlossen wurden, um das Gesetz rechtzeitig vor dem Wochenende fertig zu bekommen, bis zum Schluss für die „Diskussion“ eines Änderungsantrags wenige Sekunden blieben. Am Tag darauf winkte der Föderationsrat das Gesetz durch, Putin unterschrieb und am Samstag wurde es in der Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta veröffentlicht.
Nun warten alle ab, wie viele Menschen am Dienstag (am „Tag Russlands“) zur Demonstration kommen. Und was dort passieren wird.