„Ruhm Dir, unser freies Vaterland, der Brüdervölker ewige Union,“ so beginnt der Refrain der russischen Nationalhymne – neue, vor gut zehn Jahren von Putin bestellte Worte auf die alte, so wunderschöne Sowjetmelodie. Nun dürften die meisten Russen mit der Freiheit weniger die eigene, individuelle Freiheit meinen als eher die Freiheit ihres Staates vor Fremdbestimmung. Die Dominanz dieser Furcht im öffentlichen Diskurs ist angesichts der Expansionsgeschichte des aus dem Moskauer Kern sich entwickelnden Russischen Imperiums in alle Himmelsrichtungen durchaus erstaunlich. Sie kann eigentlich nur durch die Zerfallserfahrung am Ende der Sowjetunion erklärt werden. Dieses Schicksal, so jedenfalls die Furcht vieler Menschen in Russland, könne auch dem gegenwärtigen Russland drohen. Einheit und die, so der vorherrschende Terminus, die „Ganzheit“ des Landes, ist also ein hohes Gut, das zu verteidigen sich der Putinsche Staat ganz dick auf die Fahnen geschrieben hat. Der Herd der Bedrohung wird dabei meist außerhalb des Landes gesehen (wahlweise die USA, der Westen oder andere finstere Mächte), aber auch Inneren lauern dieser Diktion nach Feinde (auch wenn sie meist mit den äußeren in Verbindung gebracht werden, wenn nicht gar als deren Auftragnehmer gelten).
Wie erfolgreich ist Putin nun gewesen, die Einheit des Landes zu wahren? Ich wage zu behaupten, weit weniger als gemeinhin angenommen wird. Es sind aber weniger die beschworenen äußeren Feinde, die die Einheit des russischen Gemeinwesens bedrohen als vielmehr eine vielfältige Fragmentierung der russischen Gesellschaft. Nicht an allem ist das Putinsche Regime Schuld. Einige innerrussische Bruchlinien reichen viel weiter in die Geschichte zurück, mitunter bis ins vorrevolutionäre Russische Imperium. Andere haben ihren Grund in der zunehmenden Differenzierung der russischen Gesellschaft nach dem Ende der Sowjetunion. Putins Verantwortung liegt eher darin, viele dieser Brüche als Mittel zum Machterhalt eher zu verstärken als sie zu verringern. Auf zwei von ihnen möchte ich näher eingehen.
In einem Vortrag bei den 8. Chodorkowskij-Debatten am 4. Februar in Moskau hat Natalja Subarewitsch ihr Konzept von den vier weitgehend parallel nebeneinander her lebenden Russland vorgestellt. Dieses Konzept ist inzwischen so populär, dass die Urheberin, anerkanntermaßen eine der besten, wenn nicht die beste Kennerin der russischen Regionen, sich manchmal wünscht, das nicht getan zu haben. Die Versuchung, diese Vierteilung zu einfach schematisch zu interpretieren, ist einfach sehr groß. Um welche vier Russland geht es?
Russland 1 besteht aus den beiden Megalopolen Moskau und St. Petersburg, den meisten Millionenstädten, einer Reihe von Großstädten über 500.000 Einwohnern und den Öl- und Gasregionen. Dieses Russland zeichnet sich durch einen relativ hohen Wohlstand aus, ist mobil, hat einen hohen formalen Bildungsstandard, einen eher westlichen Lebenswandel. Eine Mehrheit der Menschen dort empfindet die gegenwärtige politische Situation als Stillstand, als Einschränkung ihrer Möglichkeiten. Sie plädieren für eine politische Öffnung und stimmen im Zweifel nicht für Wladimir Putin.
Russland 2 lebt eher in den depressiven industriellen Zentren, den Großstädten, deren aus der Sowjetzeit stammende Industrie weitgehend zusammengebrochen ist und in denen sich keine wirtschaftlichen Alternativen entwickelt haben. Dazu gehören auch und vor allem Dingen die sogenannten Monostädte, deren Wohlergehen von einem, zwei oder maximal drei Betrieben abhängen. Materiell hängt Russland 2 vom Moskauer Zentrum ab. Das bestimmt zu großen Teilen auch die politischen Präferenzen. Der wichtigste Unterschied zwischen den 1990er Jahren unter Jelzin und den 2000er unter Putin ist aus Sicht von Russland 2, dass in den 1990er Jahren Löhne und Renten nicht gezahlt wurden und sie es jetzt werden, ja sogar moderat höherer. Jede mögliche Veränderung erscheint hier als eine Bedrohung dieser unter Putin erreichten Stabilität. Die meisten Menschen kommen in Russland 2 deshalb zum Schluss, dass man sich lieber mit dem Spatz in der Hand zufrieden gibt als auf die Taube auf dem Dach zu hoffen. Russland 2 stimmt also mehrheitlich für Putin.
Russland 3, das kleinstädtische und ländliche Russland, ist noch depressiver, es ist am Boden. Hier gibt es kaum etwas anderes als staatliche Transferleistungen. Die sind gering, garantieren aber, gemeinsame mit dem eigenen kleinen Stück Land das Überleben, wenn auch nur das blanke und nicht wirklich schöne. Die Menschen (vor allem die Männer) in Russland 3 trinken noch mehr als das übrige Land, sie sind ungesünder und sie leben noch kürzer. Wer irgend kann (und das sind nur die jungen Menschen), geht. Kurz: Russland 3 stirbt (aus). Auch Russland 3 stimmt mehrheitlich für Putin, aber nicht als Garanten der Stabilität, sondern als Obrigkeit, von der, wenn auch auf sehr niedrigem Niveau, Wohl und Wehe abhängt.
Quer zu diesen drei Russland legt sich Russland 4, das Russland der nationalen Republiken, Bezirke und Kreise. Zwar finden sich auch hier Russland 1 (wie das ölreiche und industriell starke Tatarstan) bis Russland 3 (u.a. der gesamte, wirtschaftliche depressive Nordkaukasus), aber das Verhältnis zum Moskauer Zentrum ist ein anderes. In Russland 4 bekommt Putin die meisten Stimmen. Doch das sind keine Stimmen „für“ ihn (und seine Politik), sondern eher Ausdrücke der Loyalität. Einer Loyalität ähnlich der einem Lehnsherrn gegenüber, in der als vorherrschendes Element die unausgesprochene Versicherung schwingt, weiter zum Vielvölkerreich Russland zu gehören und gehören zu wollen, also die Superiorität des russischen Stammlandes anzuerkennen.
Natürlich ist das (siehe das Unbehagen der Autorin) ein sehr schematischer Blick auf das Land. Die 4 Russland existieren selbstverständlich nicht bindungslos nebeneinander. Auch in Moskau findet man Elemente von Russland 2 und3. Inden depressiven Weiten des agrarischen Russland kommt Russland 1 dagegen eher selten vor. Trotzdem sollte man die sozioökonomischen Unterschiede und die daraus resultierenden Interessensunterschiede nicht unterschätzen. Die Spannbreite ist weit größer als z.B. in Deutschland.
Hinzu kommt eine in vielen Bereichen aber bei weitem nicht überall deckungsgleiche soziokulturelle Spaltung, die politisch gegenwärtig sogar wirkungsmächtiger sein dürfte. Denn auf dieser Spaltung fußt die nach dem ersten Protestschock von Putin gewählte Strategie (falls dieses große Wort hier passt). Die (angenommene) Mehrheit der Modernisierungsverlierer soll gegen die (ebenfalls angenommene Minderheit) der Modernisierungsgewinner ausgespielt werden. In gewisser Weise wiederholt sich hier der alte russische (Identitäts-)Streit der Westler (früher konnte man auf Deutsch wie Thomas Mann in seien „Betrachtungen eines Unpolitischen“ einfach „Sapadniki“ schreiben und wurde verstanden) und Slawophilen. Und erneut findet er vor dem Hintergrund einer beschleunigten Globalisierung statt (damals, am Ende des 19. Jahrhunderts war allerdings weitgehend Europa der Globus). Es geht also erneut um Modernisierungsschmerzen in Russland.
Zwei aktuelle Auseinandersetzungen sind hier emblematisch: die aus den Regionen sich langsam nach Moskau vortastenden Anti-Homosexuellen-Gesetze und der „Skandal“ um das sogenannte „Punkgebet“ („Muttergottes, nimm Putin von uns“) der Frauenband Pussy Riot in der Moskauer Christerlöserkirche. In beiden Fällen steht der Putin-Kreml, mit (bisher) mehr (Antischwulengesetze) oder weniger (Pussy Riot) gebremster Macht seiner Repressionsmaschine, auf der Seite der Modernisierungsgegner (-verweigerer?). Eine weitgehend akzeptierte These ist, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen dieser Auseinadersetzung und dem Gelingen oder Scheitern einer durchgreifenden wirtschaftlichen Modernsierung des Landes gibt.
Doch das soll ein nächstes Mal genauer betrachtet werden.