Schach ist sehr populär in Russland und die russischen SchachspielerInnen sehr gut. Jede Partie besteht aus Eröffnung, Mittelspiel und Endspiel. Nicht Jeder oder Jede rettet sich ins Endspiel. Manchmal ist das Spiel schon vorher aus. Wladimir Putin hatte ein langes, ausführliches Mittelspiel und die daraus hervorgegangene Position sah noch vor kurzem wie eine Gewinnstellung aus. Das ist vorbei. Man hat das Gefühl, dass das Ende naht. Die Frage scheint nur, wie lange sich die Agonie hinzieht und was nachher noch auf dem Brett übrig bleibt.
Wie alle Bilder, ist natürlich auch dieses schief. Politik ist auch in Russland kein Schachspiel. Vor allem hat sie keinen Anfang und auch kein Ende. Es geht immer weiter. Das bedeutet auch mehr Verantwortung für alle Akteure, da man sich zum Schluss nicht die Hände reichen und jeder seiner Wege gehen kann. Aber Bilder helfen oft zu verstehen oder, besser noch, ein Gefühl dafür zu bekommen, was passiert.
Zwei andere Vergleiche für die gegenwärtigen Änderungen in Russland sind, auch um zu verstehen, sehr beliebt, oft als Frage (oder, je nach Position, als Befürchtung) formuliert: Hat der russische Aufbruch nicht etwas mit dem arabischen Frühling gemein? Oder geschieht heute in Russland nicht Ähnliches wie vor nun schon fast schon acht Jahren in der Ukraine? Immerhin haben die Gegner der Putingegner sich die Abwehr eine „orangenen Revolution“ zur Aufgabe gesetzt.
Die Antwort fällt zweideutig aus. Einerseits ist Russland weder Ägypten oder Tunesien. Putin ist viel jünger als Mubarak oder Ben Ali und auch noch lange nicht so lange an der Macht. Zudem herrscht er über ein schon altes und immer weiter alterndes Land. Die arabischen Aufstände werden aber vorwiegend von jungen Menschen vorangetrieben. Zwar sind auch in Russland viele junge Menschen an den Protesten beteiligt, aber sie sind nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Zudem hegen die meisten Menschen in Russland mit Rückblick auf die 1990er Jahre eine erhebliche Skepsis gegenüber den Versprechungen der Demokratie.
Auch die Situation in der Ukraine zum Jahreswechsel 2004/2005 war eine andere, auch wenn sie der russischen heute schon viel näher kommt. Dort hatten die Machthaber Wahlen gefälscht und so den Oppositionskandidaten um den Sieg gebracht. Die Proteste auf dem Majdan hatten ein ganz konkretes Ziel: Der tatsächliche Sieger sollte Präsident werden – und er wurde es auch.
Soweit die Unterschiede. Es gibt aber auch Ähnlichkeiten. Die wichtigste ist, dass die Proteste in all diesen Ländern (und es ließen sich noch weitere Beispiele finden, wie Serbien oder Georgien) gefälschte oder Scheinwahlen als Auslöser hatten. Das ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung. Aber offenbar reagieren Menschen überall auf der Welt empfindlicher auf derartigen Betrug durch die Machthabenden, als wir oft denken. Und wenn dann noch weiteres hinzukommt, gewinnt der Unmut öffentliche Kraft und Ausdauer. So auch jetzt in Russland.
Wahrscheinlich hängt das mit der Notwendigkeit für hybride Regime zusammen, sich letztlich doch demokratisch zu legitimieren. Und auch wenn dafür lieber außerinstitutionelle Wege gesucht werden, kommt heute kaum ein Machthaber am formalen Institut der Wahlen vorbei. Putin hat diesen Widerspruch mit der Erfindung der „gelenkten Demokratie“ zu überwinden versucht. Lange ist es, in erster Linie wohl wegen der guten wirtschaftlichen Konjunktur bis 2008, gut gegangen. Nun geht es mit der „gelenkten Demokratie“ zu Ende. Es herrscht im Lande ein Gefühl von Endspiel.
Wie sieht der Protest nun aus? Wer protestiert da mit welchen Hoffnungen und Vorstellungen? Welche Auswirkungen hat er auf Wahl und Wahlkampf? Warum wird Putin wohl trotzdem gewinnen und was tut er dafür? Und wie könnte es weiter gehen? Auf diese Fragen will ich in einer Art kleinem Selbstinterview eingehen.
Wie ist die Stimmung?
Das kommt darauf an, wohin man schaut. Der Protest gegen die Wahlfälschungen und gegen Putin ist größtenteils erstaunlich gelassen. Man sieht viel lächeln, es werden Witze gemacht, viele Losungen sind geistreich und lustig. Man spürt geradezu die Freude, dass sich nach langen Jahren der Lähmung endlich etwas bewegt. Es sind sehr viele junge Leute auf den Straßen, viele demonstrieren zum ersten Mal. Die Stimmung hat etwas Befreites.
Auf der anderen Seite gibt es aber auch große Pro-Putin-Demonstrationen. Dort scheint die Stimmung angespannter, was auch an den Losungen abzulesen ist. Dort geht es, neben dem Hochlebenlassen von Putin, vor allem um Abwehr. Das angeblich unter Putin Erreichte soll nicht gefährdet werden. Und es geht um Angst. Angst vor der Rückkehr der „chaotischen 1990er Jahre“, Angst vor einer orangenen Revolution, Angst vor Interventionen aus dem Ausland.
Die Putingegner sagen über die Putinfreunde, sie seien, vorwiegend als Staatsangestellte, durch ihre Vorgesetzten (und der letztendliche Vorgesetzte aller Staatsangestellten ist Putin) gezwungen worden zu demonstrieren. Die Putinfreunde wiederum sagen über die Putingegner, sie seien vom Westen, den USA, den alten „Oligarchen“ (denen im Exil im Ausland) angestiftet und bezahlt. Beide sprechen dem jeweils anderen Protest also die Legitimität ab. Sind die beiden Demonstrationen nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen für die Aussichten auf mehr Demokratie in Russland? Ich denke, ein gutes. Denn es bewegt sich was, die Apathie der vergangenen Jahre nimmt ab, selbst wenn im Ergebnis Putin (vorerst) bleiben sollte.
Maxim Trudoljubow, Redakteur der Tageszeitung Wedomosti, erinnert diese Frontstellung an den „Kampf des Karnevals gegen die Fastenzeit“, ein altes Breugel-Gemälde. Seine Sympathie gilt selbstverständlich dem Karneval. Nun ist aber der überschwängliche Karneval nicht nur gut und die einkehrende Fastenzeit hat gerade im Verzicht auch positive Seiten – wenn er denn aus Einsicht und freiwillig erfolgt. Vor allem aber nachdem so lange wenig Widerspruch und kaum Demokratie auf dem staatlichen russischen Speisezettel standen, kann ein wenig karnevalistische Anarchie nicht schaden.
Wie beeinflussen die Proteste den Wahlkampf?
An den Protesten kommt kein Kandidat, auch nicht der Kandidat der Kandidaten vorbei. Dazu gehen schon zu lange (seit fast drei Monaten) zu viele Menschen zu friedlich und zu oft auf die Straße. Umfragen zeigen, dass das Land heute in fast drei gleichgroße Gruppen zerfällt: Etwa ein Drittel Putingegner, ein Drittel Putinanhänger und ein Drittel an Politik nicht interessierte.
Da das dritte Drittel im Zweifel eher Putin zuneigt oder durch Enthaltung ihm als dem stärksten Kandidaten nutzt ist der Premierminister immer noch im Vorteil. Neu sind aber zwei Dinge: das Anwachsen der Putingegner auf ein Drittel. Noch vor einem Jahr lagen selbst optimistische Schätzungen meist bei nicht mehr als 20 Prozent. Und zum anderen die öffentliche Sichtbarkeit dieses Dissenses. 10 bis 20 unzufriedene Prozent, von denen die meisten ihre Unzufriedenheit außerhalb der eigenen Küche nur selten zeigen, lassen sich ohne allzu große politische Kosten ignorieren. Bei einem Drittel, zudem aktiv und laut, wird das viel schwieriger.
Wie reagiert Putin auf die Proteste? Was tut er, um trotzdem zu gewinnen?
Bisher geht Putin doppelgleisig vor. Die Proteste werden zugelassen. Das war bis zum Dezember anders. Genehmigungen (derer es dem Gesetz nach eigentlich gar nicht bedarf) wurden nicht erteilt. Wer trotzdem auf die Straße ging, riskierte Verhaftungen oder, wie es Putin selbst ausdrückte, „einen Knüppel auf den Dez“. Seither stehen selbst zentrale (wenn auch nicht die zentralsten) Plätze für Demonstrationen zur Verfügung und die Polizei rühmt sich hinterher öffentlich, niemanden verhaftet zu haben.
Auf der anderen Seite aber hat der Kreml die ganz große Dreckschleuder- und die Vernebelungsmaschinen angeworfen. Gekauft seien die Proteste, und zwar aus dem Ausland. Die Protestierer seien „faule Nichtsnutze“ (Putin), fehlgeleitet von ihren Anführern, die sie zudem als „Vieh“ verachteten. Mitte dieser Woche raunte Putin, er fürchte, dass es bei den nach der Wahl zu erwartenden Protesten „Tote geben“ könne.
Unabhängige WahlbeobachterInnen werden wo und wie es geht behindert. Akkreditierungen werden verweigert. Golos wird schikaniert: Erst wurde das Büro gekündigt, dann der Strom abgestellt. Diese Woche schließlich mahnte ein Gericht die Organisation wegen angeblicher Verletzung der Wahlgesetze ab. Golos ruft dazu auf, per SMS von allen Wahllokalen die Ergebnisse geschickt zu bekommen, um so eine parallele Auszählung organisieren zu können.
Schon vorige Woche waren zudem im Internet Videos aufgetaucht, die Putingegner angeblich dabei zeigen, wie sie schon vor der Wahl in gefaketen Wahllokalen Wahlfälschungen fälschen und aufnehmen. Ein paar Tage später beschwerte sich Putin, mit diesen Videos wolle die Opposition nach der Wahl die eigentlich sauberen Wahlen diskreditieren.
Mit allen Mitteln wird auch versucht, Putins sinkendes Rating aufzupolieren. Bei kremlnahen Umfrageinstituten stiegen die Zahlen seit Jahresbeginn langsam aber kontinuierlich, um pünktlich zur Wahl zu suggerieren, er werde mit großer Sicherheit gleich im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit siegen. Zum Ratingbooster sollte wohl auch die Meldung werden, in Odessa in der Ukraine seien die Vorbereitungen zu einem Anschlag auf Putin aufgedeckt und tschetschenische Terroristen verhaftet worden. Doch der Zeitpunkt, eine Woche vor der Wahl, ließ selbst den ukrainischen Geheimdienstchef zweifeln, dass es sich dabei um mehr als einen Propagandatrick handele.
Werden die Proteste nach den Wahlen weiter gehen?
Im Dezember noch war das eine ernsthafte Frage. Alle Proteste zuvor gegen Putin waren schnell wieder abgeflaut. Doch da ging es entweder um begrenzte soziale oder regionale Probleme oder es Protestierten nur die „üblichen Verdächtigen“, die leicht als „Feinde“ oder „Querulanten“ zu diskreditieren waren. Das gelingt nicht mehr, wie die vergangenen drei Monate schon gezeigt haben. Fast im Gegenteil. Je schärfer (und damit unglaubwürdiger) die Vorwürfe gegen die Protestbewegung werden, umso mehr Sympathisanten scheint sie zu gewinnen. Ganz offenbar ziehen die alten Putin-Posen als starker, mitunter auch grober Führer bei vielen Menschen in Russland nicht mehr.
Hinzu kommt, dass schon vor den Wahlen mehr als 50 Prozent der russischen Bevölkerung davon überzeugt sind, dass sie manipuliert sein werden. Nur 25 Prozent glauben an saubere Wahlen. Das ist auf beiden Seiten ein ziemlich starker Glaube. Selbst wenn die Wahlen am Sonntag wider Erwarten ohne größere Fälschungen ablaufen sollten, wird er kaum zu erschüttern sein. Und das ist angesichts der unfairen Ausgangsbedingungen, der Nichtzulassung einer ganzen Reihe von Kandidaten, darunter von Grigorij Jawlinskij von der Jabloko-Partei und der überwältigenden Dominanz des meist positiv dargestellten Putin gegenüber seinen viel seltener und dann meist negativ gezeigten Gegnern im staatlich kontrollierten Fernsehen auch richtig so.
Die Frage ist natürlich, wie intensiv die Proteste nach den Wahlen weiter gehen. Ohne sichtbare Erfolge wird ein Nachlassen, eine Ermüdung, wohl auch Enttäuschung vieler ProtestiererInnen unvermeidlich sein. Doch hat der Protest diesmal neue Bevölkerungsgruppen erreicht. Viele junge Menschen wurden politisiert. Diese Erfahrung wird bleiben, selbst wenn die Proteste auslaufen sollten. Und sie wird beim nächsten Anlass abrufbar sein.
Wie wird es nach der Wahl weiter gehen?
Wahrscheinlich wird niemand so richtig zufrieden sein. Putins Sieg wird vielleicht auf dem Papier hoch ausfallen. Aber da (fast) alle vom unfairen Zustandekommen dieses Sieges überzeugt sind, wird das nicht allzu viel zählen. Putin wird also kaum weiter so aus einer Position der Stärke heraus handeln können, wie er das bisher gewohnt war. Oder anders herum: Sollte er das versuchen, dürfte es die Proteste eher weiter anfeuern als sie abflauen zu lassen. Mir scheinen gegenwärtig drei Szenarien möglich.
Im ersten, dem wohl wahrscheinlichsten, wird Putin versuchen, so zu tun, als ob er mit der Opposition eine Reihe von Kompromissen eingehe. Das hat mit der Änderung des Wahlgesetzes für die Staatsduma, der Wiedereinführung der Direktwahl der Gouverneure und dem angekündigten Aufbau eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks bereits begonnen. Wirkliche macht wird hier nicht geteilt. Wirkliche Beteiligung an diesen Änderungen gibt es auch nicht. Ihre Wirkungen werden sie, wenn überhaupt, nicht so bald entfalten. All das ist zielt auf die Hoffnung, dass die Proteste mit der Zeit Abebben. Es geht um Zeitgewinn.
Das zweite Szenarium könnte den Versuch beinhalten, einen Teil der Opposition zu kooptieren. Das hat Putin, ein wenig vergessen, schon ganz am Beginn seiner politischen Karriere schon einmal die Macht gesichert. Nach dem vielleicht schmutzigsten Wahlkampf der neueren russischen Geschichte im Herbst 1999 wurde die unterlegene Seite um den Moskauer Bürgermeister Luschkow und den Vorgänger von Putin als Premierminister Jewgenij Primakow eingebunden und an den Fleischtöpfen beteiligt. Hinzu kam die Jelzin-Familie. Das Bündnis hält teilweise bis heute.
Die Schwierigkeiten, auf die solch ein Kooptationsversuch stoßen würde, liegen aber in der völlig anderen Struktur der politischen Opposition heute. Ende der 1990er Jahre waren das organisierte Strukturen innerhalb des politischen und ökonomischen Systems. Heute fehlt fast jede feste Organisationsstruktur. Schuld daran ist Putin selbst. Zur Machtsicherung hat er sein faktisches Politikverbot für alle anderen unter anderem durch die Zerschlagung oder Zähmung fast aller politischen Organisation durchgesetzt. Nun klagt er selbst, man wisse gar nicht, mit wem man bei der Opposition sprechen könne. Die Chancen für dieses Szenarium sind also ungewiss, obwohl es große Möglichkeiten böte, die Lebenszeit des Putin-Regimes erheblich zu verlängern.
Bleibt ein drittes, aber wohl allzu optimistisches Szenarium, in dem sich das System unter dem Druck des Protests tatsächlich demokratisch zu transformieren beginnt. Vorzeitige Neuwahlen oder eine Runder Tisch nach dem Vorbild der Wende vor 20 Jahren in vielen mittel- und osteuropäischen Staaten könnte neue politische Legitimität generieren. Doch was dann geschähe, ist kaum vorhersagbar. Genau diese Unsicherheit ist eines der wirksamsten Argumente Putins seinen eigenen Eliten gegenüber ebenso wie öffentlich einem großen Teil der Bevölkerung.
Welche Entwicklung Russland aber auch immer nehmen wird, viel, wenn nicht alles hängt davon ab, dass der Protest lebendig bleibt. Er hat die Rolle der politischen Opposition übernommen und nur er ist in der Lage, die gegenwärtigen Machthaber vielleicht doch in Richtung der demokratischen Reformen zu drängen, die das Land braucht, um sich auch ökonomisch zu reformieren.