Kommt Chodorkowskij vielleicht doch noch frei?

Vor fast genau einem Jahr habe ich in diesem Blog (und nicht nur hier) versucht, einen politisch
realistischen und gangbaren Weg aufzuzeigen, wie Michail Chodorkowskij und
Platon Lebedew bald freigelassen werden könnten. Der zweite Prozess gegen die
ehemaligen JuKOS-Eigner neigte sich dem Ende zu, ihre Gefängnisstrafe brachte
auch der russischen Staatsführung mehr Ärger als Vorteile ein und die mögliche
politische Konkurrenz, die von einem freien Michail Chodorkowskij für Putin und
Medwedjew ausgehen könnte, gibt es längst nicht mehr. Im Gegenteil. Die beiden
bekanntesten Gefangenen des Landes sind zu einer zunehmenden Last geworden.
 

Natürlich hatte
damals kaum jemand Hoffnung, dass sich Kreml und Weißes Haus zu solch einen (im
wahrsten Sinne des Wortes) befreienden Schritt (und Schnitt) würden entscheiden
können. So kam es auch. Ende Dezember wurden beide zu 14 weiteren Jahren
verurteilt. Entlassungsdatum nun 2017. Inzwischen hat die nächste Instanz die
Strafe zwar um ein Jahr verringert, einen wirklichen Unterschied macht das aber
nicht.
 

Und obwohl ich
wegen meines vorjährigen Vorschlags unter anderem der politischen Naivität
gescholten worden bin, versuche ich es, der Stalin zugeschriebenen Sentenz
„popitka he pytka“ („ein Versuch ist keine Folter“) betreu, erneut. Denn jetzt
gibt es eine zweite Chance, eine Chance, die paradoxer Weise aus einer
teilweisen Niederlage Chodorkowskijs vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) entspringt. Der EDMR urteilte vorige Woche in einer
ersten Entscheidung zu diesem Fall, dass zwar die Verhaftung Chodorkowskijs und
seine Behandlung im Untersuchungsgefängnis rechtwidrig waren, es sich zumindest
bei der ersten Verurteilung nicht um einen politischen Prozess gehandelt habe.
 

Gleichzeitig
beantragten sowohl Michail Chodorkowskij als auch Platon Lebedew ihre
vorzeitige Haftentlassung auf Bewährung, weil sie die Hälfte ihrer Gesamtstrafe
abgebüßt haben. So sieht es das russische Strafrecht vor. Beide Ereignisse gegen
sowohl Putin als auch Medwedjew sie Chance, mit der Entlassung beider sowohl
ein Problem los zu werden als auch noch politische Punkte zu sammeln.
 

Für Medwedjew ist
die Sache einfach. Eine Entlassung hülfe, sein inzwischen ein wenig
angekratztes Image als liberaler Modernisier zu erneuern. Auch seine immer
wieder in Frage gestellte Entscheidungskraft und Selbstständigkeit wären dann
leichter zu behaupten. Das brächte Vorteile im Land, wo die eher liberal
eingestellten intellektuellen und wirtschaftlichen Eliten zur Teilnahme an den
Modernisierungsanstrengungen gewonnen werden wollen, aber auch auf der
internationalen Bühne.
 

Doch auch Putin
würde profitieren, ohne sein Gesicht zu verlieren. Durch die Entscheidung des
EGMR, den Prozess nicht als politisch anzuerkennen, könnte sich Putin auf den
Standpunkt stellen, nur nach Recht und Gesetz zu handeln, wenn Chodorkowskij
und Lebedew freikämen. Immerhin bleiben sie rechtmäßig verurteilte
Rechtsbrecher, den nur die Chance auf Bewährung gewährt würde. Zusätzlich wären
eventuell noch vorhandene Ängste auf eine politische Karriere von Chodorkowskij
gegenstandslos, weil er als auf Bewährung entlassener Strafgefangener kein
passives Wahlrecht besäße. Eine wirkliche Win-Win-Situation also.
 

Leider ist die
russische politische Elite bisher noch nicht dadurch aufgefallen in
Win-Win-Kategorien zu denken. Bisher dominiert das Nullsummen-Denken demnach
der Vorteil des einen zwangsläufig der Nachteil des anderen sein muss. Es ist
schon lange höchste Zeit zum Umdenken.
 
     


Veröffentlicht

in