Neuer Un-Sinn vom Staat: Neues Geheimdienst-Gesetz erlaubt dem FSB zu verbieten, was nicht verboten ist

Die gestern von der Staatsduma in dritter Lesung angenommenen Änderungen zum Gesetz über den Inlandsgehiemdienst FSB machen den Unsin zur Methode: Künftig kann vom FSB verboten werden, was nicht verboten ist. Das ist weder neu noch originell. Die Menschenrechtsorganisation Memorial weist in einer Erklärung (weiter unten die gesamte Erklärung in deutscher Übersetzung, das russische Original auf der Website von Memorial) darauf hin, dass diese Idee schon auf Nikita Chruschtschow zurück geht, und 1972 noch einmal vom Obersten Sowjet per Ukas bestätigt worden war. Allerdings war das Warnwesen, nach dem der Geheimdienst Menschen eine „Warnung“ aussprechen kann, etwas zu tun, was er noch nicht getan hat, aber nach Überzeugung des Geheimdienstes tun könnte, so Memorial, wenig effiektiv. Es seien keine Dissidenten bekannt, die sich von der „Pflicht, die Warnung zu beachten“ von ihrem angeblich „staatsfeindlichen“ tun haben abbringen lassen. Erst das neue Russland räumte vor 20 Jahren mit dem Unsinn auf, der allerdings nicht nur unsinnig, sondern auch noch gefährlich ist.

Neben Memorial protestierten auch die Jabloko-Partei und in einem Aufruf eine Reihe oppositioneller Persönlichkeiten (darunter die Vorsitzende der Moskauer Helsinki Gruppe Ludmila Alexejewa) gegen das neue Gesetz, das nun noch vom Oberhaus abgesegnet und von Präsident Dmitrij Medwedjew unterzeichnet werden muss, um in Kraft zu treten. Alle hofften in ihren Erklärungen und Protesten gestern noch auf den „juristischen Sachverstand“ von Medwedjew, der diesen augenscheinlichen Unsinn doch nicht unterzeichnen könne. Die Hoffnung dürfte trügerisch sein. Bei der Abschlusspressekonferenz zu den deutsch-russischen Regierungskonsultationen gestern Mittag in Jekaterinburg antwortete Medwedjew auf die eigentlich an Angela Merkel gerichtete Frage, was sie von dem Gesetz halte, jedes Land habe das Recht, seine Geheimdienstgesetzgebung „zu vervollkommnen“ und im übrigen „möchte ich, dass sie wissen, dass das ganze auf meine direkte Anweisung hin geschieht“. Alles nachzulesen im Transskript der Pressekonferenz auf der Kreml-Website.

 

Erklärung
von Memorial International
 

Über Änderungen am Gesetz über den FSB

  

Am 9. Juli hat die Staatsduma in zweiter Lesung
einen Gesetzentwurf angenommen, der dem FSB das Recht gibt, zum Zweck
sogenannter Prophylaxe (d.h. um noch nicht begangene Verbrechen zu begehen),
einen neuen Hebel an die Hand: eine Warnung, die die staatlichen
Sicherheitsorgane „physischen Personen“, d.h. einzelnen Bürgern, aussprechen
können.

 

Grundsätzlich ist die Prophylaxe von Verbrechen,
darunter auch denen, die in die Zuständigkeit des FSB fallen, nichts Neues.
Über Prophylaxe als eine Hauptrichtung der Tätigkeit des KGB hat als erster
Nikita Chruschtschow schon auf dem 21. Parteitag der KPdSU gesprochen; der
Prophylaxe wurde im „grundlegenden“ Befehl des Vorsitzenden des KGB Schelepin
„Über die Aufgaben des Staatssicherheitsorgane“ vom 15. Juli 1959 erheblicher Platz eingeräumt. Und weitere 13 Jahre später, am 25. Dezember 1972, beschloss das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Ukas
„Über die Anwendung von Warnungen durch die Staatssicherheitsorgane als Maßnahme
zur prophylaktischen Einwirkung“. Warnungen wurden Personen gegenüber ausgesprochen,
die „antisowjetische Handlungen, die den Interessen der Staatssicherheit der
UdSSR widersprechen“, begehen, „wenn diese keine strafrechtliche
Verantwortung nach sich ziehen
„. Es ist schwer sich vorzustellen, dass
der Ukas vom 25. Dezember 1972 half, auch nur ein wirkliches Verbrechen zu
verhindern. Dagegen sind uns Dutzende Fälle bekannt, in denen andersdenkenden
sowjetischen Bürgern „Warnungen“ ausgesprochen wurden, in irgendeiner Weise
öffentlich ihrem Andersdenken Ausdruck zu geben.

 

Genau den gleichen Zugang zur Prophylaxe von
Verbrechen demonstriert das heutige Gesetzesvorhaben: Es erlaubt dem FSB
Bürgern offizielle Warnungen „über die Unzulässigkeit von Handlungen, die
Vorbedingungen für die Ausführung von Verbrechen schaffen“, auszusprechen, „bei
gleichzeitiger Abwesenheit von Gründen, jemanden zur strafrechtlichen
Verantwortung zu ziehen
„. Der juristische Gedanke der russischen
Gesetzgeber ist in die alte. Sowjetische Spur zurück gekehrt.

 

Die Vollmachten des Föderalen Sicherheitsdienstes
in unserem Land haben schon längst alle vernünftigen Grenzen überschritten. Der
FSB ist in Russland mehr als ein Geheimdienst; er hat sogar das Recht, bei
einer ganzen Reihe von Verbrechen eigene Ermittlungen anzustellen. Nun bekommt
der FSB auch noch die Vollmachten einer Staatsanwaltschaft – die Prophylaxe.
Dieses Ereignis hat nicht nur praktischen, sondern bezeichnenden Charakter.

 

Wir bezweifeln nicht die Nützlichkeit und
Notwendigkeit von Prophylaxe von Verbrechen als solche. Theoretisch ist die
Prophylaxe von Verbrechen eine völlig edle und humane Aufgabe: eine Menschen
davon aufzuhalten, der sich kurz davor befindet, ein Verbrechen zu begehen, ihm
die Möglichen Folgen seiner Handlungen klar zu machen, um dadurch ein
Verbrechen zu verhindern. Das ist viel besser als ihn hinter Gitter zu
schicken. (1959 war der Grund der Umorientierung des KGB zur Prophylaxe eine
der Maßnahmen, die die repressive Kampagne der Jahre 1957/1958 zu beenden, die
auf die Ereignisse in Ungarn gefolgt waren).

 

Allerdings ist der Versuch, die prophylaktische
Arbeit juristisch zu reglementieren, von Anfang an sinnlos. Im Alltagsleben können wir davon sprechen, dass sich jemand mit seinen
Handlungen „am Rande eines Verbrechens“ bewegt: aber aus der Sicht der
grundlegenden Prinzipien des Rechts gibt es keine solchen Handlungen und kann
es sie auch nicht geben
. Ein Mensch begeht entweder ein Verbrechen (auch
die Vorbereitung eines Verbrechens ist in Übereinstimmung mit § 30 des
Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation ebenfalls ein Verbrechen) und dann
trägt er die strafrechtliche Verantwortung dafür in Übereinstimmung mit den
entsprechenden Paragraphen des Strafgesetzbuchs: oder er begeht kein Verbrechen
– dann sind seine Handlungen gesetz- und rechtmäßig.

 

Ein Mitarbeiter der Geheimdienste kann einem
Menschen mitteilen, dass er sich, seiner Meinung nach am Rande eines
Verbrechens befindet, und dass er sich, sollte er weiter gehen, auf der
Anklagebank wiederfinden kann. Aber dazu braucht er keine zusätzlichen
Vollmachten und Rechte.

 

Wenn aber diese „Warnung““ gesetzlich geregelt
wird, wenn ein „juristischer“ Mechanismus ihre Form regelt, dann wird aus ihr
unweigerlich das, was der Ukas vom 25. Dezember 1972 war – ein Instrument zur
politischen Einschüchterung. Im Übrigen ein wenig effektives Instrument: In den
meisten uns bekannten Fällen haben Dissidenten die ihnen ausgesprochenen
„Warnungen“ einfach ignoriert. So wird sich aller Voraussicht nach auch die
Mehrheit der heutigen russischen Bürger verhalten, da für das Ignorieren keine
konkreten Sanktionen vorgesehen sind, ja nicht vorgesehen werden können, da es
sich ja nicht um Gesetzesverletzungen handelt! Im Gesetzentwurf wird daran
erinnert, dass es ein „Pflicht zum Folgen“ der Warnung gibt, aber es steht dort
nichts darüber, was mit denjenigen passiert, die dieser Pflicht nicht
nachkommen.

 

Der Versuch, das Recht mit von vornherein
unrechtmäßigen Mechanismen der politischen Repression zu kreuzen, wird
unweigerlich entweder die Zerstörung des Rechts oder die Ineffizienz der
Repression zur Folge haben. Im vorliegenden Fall haben wir es, wie es aussieht,
mit beidem zu tun. 

 

Wir hegen entschieden keinerlei Illusionen in
Bezug auf diese Gesetzesinitiative: Zweifellos wird sie am 16. Juli von der
Duma in dritter Lesung angenommen werden. Allerdings haben wir keinen Grund an
der juristischen Kompetenz des Staatsoberhaupts zu zweifeln. Und wir verlieren
nicht die Hoffnung, dass er es, wenn dieses teilweise sinnlose und teilweise
gefährliche Gesetz dem Präsidenten der Russischen Föderation zur Unterschrift
vorgelegt wird, entsprechend beurteilen und sein Vetoeinlegen wird.

 

 

 

 

Vorstand von Memorial International

 

15. Juli 2010