Morgen, am 15. Juli jährt sich zum ersten mal der Tag der Ermordung von Natalja Estemirowa. Die Journalistin und Mitarbeiterin von Memorial wurde vor ihrem Haus in Grosny verschleppt und ein paar Stunden später an der Grenze zur nachbarrepublik Inguschetien durch Schüsse in Kopf und Leib regelrecht hingerichtet. Während das geschah, tagte in München der 9. deutsch-russische Petersburger Dialog. Dort verurteilten auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Dmitrij Medwedjew den Mord. Medwedjew versprch, die Mörder würden gefunden und vor Gericht gestellt.
In diesen Tagen findet der 10 Petersburger Dialog in Jeklaterinburg im Ural statt. Wie der Zufall es will, werden morgen, am ersten Todestag Natalja Estemirowas, erneut Kanzlerin und Präsident vor das Plenum des Dialogs treten. Gefunden sind die Mörder nicht. Mehr noch. Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow erdreistete sich vorige Woche nicht, Memorial-Mitarbeitern zu drohen. Zwar widerrief er seine Drohungen zwei Tage später, aber alle seine Anhänger in Tschetschenien werden wissen, das er das unter Drtuck aus Moskau getan hat und in Wirklichkeit das denkt, was er zuvor sagte. Die Bedrohung für die Memorial-Mitarbeiter, das weiß auch Kadyrow ist damit nicht vom Tisch. Sie ist angekommen und das war wohl auch der Zweck. In Moskau bersucht die Staatsanwaltschaft immer noch Oleg Orlow, Vorsitzender des Menschenrechtszentrums Memorial, den Prozess zu machen, weil er Kadyrow direkt nach der Ermordung Natalja Estemirowas als politisch „verantwortlich“ für den Mord genannt hat.
All das zusammen, der unaufgeklärte Mord, die Drohungen und das Strafverfahren gegen Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler neunruhigt zahlreiche TeilnehmerInnen des diesjährigen Petersburger Dialogs. Richten daher einen Aufruf an Frau Merkel und Herrn Medwedjew, ihren Einfluss geltend zu machen, damit der Mord endlich aufgeklärt wird, die Schuldigen vor Gericht kommen und die Einschüchterung von MenschenrechtlerInnen aufhört.
Hier der Aufruf im Wortlaut:
Vor einem Jahr wurde Natalja Estemirowa ermordet – ihre Mörder sind immer noch frei und ihre Mitstreiter werden bedroht
Vor genau einem Jahr wurde die Menschenrechtlerin und Mitarbeiterin von Memorial Natalja Estemirowa in Tschetschenien verschleppt und ermordet. Natalja Estemirowa schwieg nicht, wo Angst die meisten stumm macht.
Der Mord vor einem Jahr geschah, als der 9. Petersburger Dialog in München tagte. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Dmitrij Medwedjew verurteilten den Mord auf dem Abschlussplenum des Petersburger Dialogs scharf und forderten seine Aufklärung, das Finden und Bestrafen der Schuldigen. Präsident Medwedjew versprach alles in seiner Macht stehende dafür zu tun.
Heute, auf den Tag genau ein Jahr später, beim 10. Petersburger Dialog in Jekaterinburg müssen wir mir großem Bedauern feststellen, dass die Ermittlungen offenbar nicht mit dem nötigen Nachdruck geführt werden. Der Mord ist nicht aufgeklärt. Die Täter und ihre möglichen Hintermänner sind unbekannt und auf freiem Fuß. Diese Erkenntnis ist ernüchternd und bitter.
Gleichzeitig nennt der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow Mitarbeiter von Memorial, die Mitstreiter von Natalja Estemirowa im tschetschenischen Fernsehen „Volksfeinde“, „Feinde des Rechts“ und „Staatsfeinde“. In Moskau soll Oleg Orlow, Vorsitzender des Menschenrechtszentrums Memorial, wegen Verleumdung vor Gericht gestellt werden, weil er direkt nach der Ermordung Natalja Estemirowas Kadyrow als für den Mord politisch „verantwortlich“ bezeichnet hat.
Es ist unerträglich, wenn die Morde an Natalja Estemirowa und anderen unaufgeklärt bleiben. Es ist empörend, wenn gleichzeitig ihren Kollegen gedroht wird oder sie für politische Aussagen mit Strafverfahren überzogen werden.
Wir, die unterzeichnenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 10. Petersburger Dialogs in Jekaterinburg, fordern die Verantwortlichen nachdrücklich auf, die Anstrengungen zu verstärken, die Morde an Natalja Estemirowa und allen anderen aufzuklären. Wir fordern die Einstellung des Verfahrens gegen Oleg Orlow. Wir erwarten von der russischen Staatsführung eine klare Distanzierung von den unverantwortlichen und zynischen Aussagen des tschetschenischen Präsidenten. Gerade angesichts der konstruktiven Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen, die sich im diesjährigen Petersburger Dialog widerspiegelt, bitten wir Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Medwedjew, ihren Einfluss zur Erfüllung dieser Forderungen einzusetzen. Rechtsstaatlichkeit muss ein tragender Pfeiler der russisch-deutschen Zusammenarbeit sein.
Marieluise Beck MdB, Bremen
Jelena Schemkowa, Moskau
Friedbert Pflüger, Berlin
Ilja Ponomarjow, Abgeordneter der Staatsduma, Moskau
Harald Leibrecht MdB, Berlin
Alexander Kalich, Perm
Ralf Fücks, Berlin
André Brie, Berlin
Franz Thönnes MdB, Ammersbeck
Anatolij Arsenichin, Togliatti
Hans-Henning Schröder, Bremen/Berlin
Peter Franck, Berlin
Stefan Melle, Berlin
Ute Weinmann, Moskau
Jens Siegert, Moskau
Doris Barnett MdB, Ludwigshafen
Gemma Pörzgen, Berlin
Jelisaweta Dschirikowa, Moskau
Angelika Krüger-Leißner MdB, Berlin
Ralf Possekel, Berlin
Ottilie Bälz, Stuttgart
Wolf Iro, Moskau
Sabine Adler, Berlin
Propst Siegfried Kasparick, Wittenberg
Eva Wiesenecker, Stuttgart