Anschläge und Demonstrationsfreiheit – Menschenrechtler gedenken anstatt zu demonstrieren

Am 31. eines jeden Monats, den der Kalender werden lässt, also sieben Mal im Jahr, wollen russische Oppositionelle für die Demonstrationsfreiheit in ihrem Land demonstrieren. Der Paragraph 31 der russischen Verfassung garantiert die Demonstrationsfreiheit. Das Bündnis ist offen und bunt. Es reicht von der Grand Dame der russischen Menschenrechtsbewegung Ludmila Alexejewa über Memorial bis zum Oppositionsbündnis „Solidarnost“ (u.a. Kasparow, Nemzow, Ponomarjow) bis zu den Nationalbolschwisten unter Eduard Limonow. Erlaubt (obwohl das laut Gesetz gar nicht nötig ist) werden diese Kundgebungen nie. Immer geben die Behörden vorgeschobene Begründungen, warum gerade an diesem 31. der Triumpf-Platz am Majakowskij-Denkmal am Rande der Moskauer Innenstadt besetzt ist. Auch für diesen Mittwoch Abend gibt es erneut keine Erlaubnis.

So weit, so schlecht. Denn wie bisher immer hatten die Demonstrationrechtverteidger natürlich auch diesmal wieder vor, ihr in der Verfassung garantiertes Recht wahrzunehmen. Alle, Demonstranten wie Behörden, waren darauf vorbereitet, das schon eingespielte Ritual von Demonstration und Festnahmen erneut zur Aufführung zu bringen. Doch nun, nach den blutigen Anschlägen auf die Moskauer Metro gestern, ist alles anders.

Die obzön-militante Kremljugend „Naschi“, nach den Wahlen 2007 und 2008 wg. Unterfinanzierung weitgehend in der Versenkung verschwunden, hat angekündigt, an diesem 31. März, um 18 Uhr, also gerade dort am Majakowskij-Denkmal, wo der Oppositionskoalition das Demonstrieren schon lange vor den Anschlägen verboten wurde, und zu genau der Zeit eine
„Trauerversammlung“ abzuhalten. Es passt zu früheren grobschlächtigen und üblen Kampagnen von „Naschi“, dass nun auch die Trauer um die Anschlagstoten dafür herhalten muss, Oppositonellen das Demonstrationsrecht streitig zu machen.

Ein Teil der Demonstrationsfreiheitsdemonstranten, darunter Ludmila Alexejewa, Memorial und Lew Ponomarjow , hat gleichzeitig beschlossen, dass es zwei Tage nach den tödlichen Anschlägen nicht richtig sein würde, sich das Demonstrationsrecht gegen die Polizei auf der Straße zu erkämpfen. Deshalb rufen sie dazu auf, am Mittwoch Abend nicht zum Majokowskij-Denkmal zu gehen, sondern mit ihnen zusammen im Gedenken an die Anschlagsopfer Blumen an der Metrostation „Park
Kultury“, einem der Aschlagsorte, nieder zu legen. In einer sehr persönlichen Erklärung, begründete Ludmila Alexejewa in ihrem Blog im russischen Live Journal diesen Schritt. „Trauertage sollen Trauertage bleiben“, schreibt die 82-Jährige. Aber sie macht auch deutlich, dass dieser Verzicht kein Ende der Demonstrationen an den 31. Kalendertagen bedeutet.  Sie werde auch morgen den Button mit der Zahl 31 nicht ablegen, den sie seit Monaten trage, so Ludmila Alexejewa. Und am 31. Mai werde es die nächste Demonstration beim Majakowskij-Denkmal geben.

Die Entscheidung von Ludmila Alexejewa und anderen führt aber nicht automatisch dazu, dass alle, die für die Demonstrationsfreiheit
demonstrieren wollten und dazu aufgerufen
haben, dieser Initiative folgen werden. Insbesondere das Verhalten der
Nationalbolschwisten ist bisher unklar. Sollten
sie morgen zum Majakowskij-Platz gehen, wird es mit großer Sicherheit zu wohl auch handgreiflichen Auseinandersetzungen sowohl mit der Polizei als auch den
„Naschi“ kommen, viele Festnahmen eingeschlossen. Das darauf folgende kremloffizielle
Medienecho, so ist zu befürchten, wird sich dann aber gegen alle
InitiatorInnen der „Paragraph-31-Demonstrationen“ richten, also auch
gegen Ludmila Alexejewa und ihre KollegInnen. 

Gleichzeitig wird es für sie sehr schwer werden, öffentlich ausreichend zwischen dem Recht auch der Nationalbolschewisten zu demonstrieren, wann und wo sie
wollen, und der eigenen Position, dass man selbst das aber zwei Tage
nach den Anschlägen aus ethischen Erwägungen nicht für richtig hält, zu differenzieren. Die Kreml-Medienmaschine wird heftig daran arbeiten, alle Oppositionelle in einen, möglichst scham- und würdelos erscheinenden Topf zu werfen. Doch wie Ludmila Alexejewa schreibt: Sie habe hin und her erwogen, sei dann aber doch zu dem Schluss gekommen, dass sie ihrem Anstandsgefühl folgen müsse.