Das „Institut für
Moderne Entwicklung“ (russisch: Institut Sowremennogo Raswitija, INSOR) sitzt
in einem kleinen, klassizistischen Palast, weiß und hellblau, wie es sich
gehört mit Säulen vor dem Eingang, in einem Park am Rande der Moskauer
Innenstadt. Man könnte das feudal nennen oder angemessen. Immerhin gilt es als
„Medwedjew-Institut“. Der seinerzeit gerade Noch-Nicht-Präsident hat die
Entstehung vor gut zwei Jahren initiiert und sitzt seither dem Kuratorium vor.
Ein Think Tank für Modernisierung soll es sein, ein, in Russland ungewöhnlich
und von kaum jemanden geglaubt, unabhängiger. Geld aus der Staatskasse gibt es
daher nicht. Man darf aber getrost davon ausgehen, dass das Einwerben von
Spenden mit dem Präsidenten als Vorsitzenden des Kuratoriums etwas einfacher
und einträglicher ist als es ohne wäre.
Neben Medwedjew
sitzen im Kuratorium eine Ministerin (Elvira Naibullina,
Wirtschaftsentwicklung), ein stellvertretender Duamvorsitzender (Oleg Morosow,
Fraktion „Einiges Russland“), ein Gouverneur (Dmitrij Mesenzew, Gebiet Irkutsk)
und zahlreiche, eher liberal aufgefallene Wissenschaftler.
Vorstandsvorsitzender ist Igor Jürgens, Investmentbanker und stellvertretender
Vorsitzender der Russischen Union der Unternehmer und Industriellen. Alles in
allem ist das Institut für Moderne Entwicklung also eine eher dem liberalen politischen
Spektrum zuneigendes Einrichtung, wenn auch mit sehr guten Verbindungen zur
„Macht“. Man könnte auch, ein wenig kritischer, von guten Anbindungen
sprechen.
Die Studie
Anfang Februar legte
das Institut eine lange erwartete Studie mit dem Titel „Russland im 21.
Jahrhundert: Bild der wünschenswerten Zukunft“ vor. Da es im Russischen keine
Artikel gibt, könnte der Titel allerdings auch mit „Russland im 21.
Jahrhundert: Bild einer
wünschenswerten Zukunft“ übersetzen. Die Studie ist als Empfehlungen an Dmitrij
Medwedjew konzipiert. Folglich erhielt der Präsident sie vorab. Nach Auskunft
von Igor Jürgens hat sich Medwedjew zur Studie zurückhaltend geäußert. In
mehreren Interviews zitierte er den Präsidenten, einige der Vorschläge seien
annehmbar, andere wiederum ungeeignet.
Mitte Februar wurde
das Werk im schon erwähnten kleinen, pastellfarbenen Palast etwa 200ausgewählten
Personen vorgestellt. In ihrer Mehrzahl
waren das Experten aus dem universitären Bereich, der Akademie der
Wissenschaften und zahlreicher, meist liberaler Think Tanks, dann einige
Politiker (im Wartestand, weil nicht den auserwählten Dumaparteien angehörend),
ausländische Diplomaten und Vertreter ausländischer Think Tanks.
Ausgangspunkt der
Studie sind zehn politische Thesen der Autoren. Sie postulieren eine „tiefe“
und „systemische“ Krise, deren Überwindung für Russland „entscheidende“ Bedeutung
habe. Wenn dieser Krise nicht erfolgreich begegnet werde, dann sei bald der
„Point of no Return““ erreicht. Weiter im Takt: Ohne Freiheit gebe es keine
Modernisierung im 21. Jahrhundert; Modernisierung durch den Staat funktioniere
unter den Bedingungen der Globalisierung nicht mehr; wirtschaftliche Modernisierung
sei ohne Modernisierung des politischen Systems nicht möglich; nur politische
Freiheiten erzeugten den notwendigen „Drive“, um das träge (gewordene) System
vom Fleck zu bewegen; Deregulierung sei vonnöten; der Übergang zur
Modernisierung dürfe aber nicht nach dem alten russischen Muster einer
„permanenten Revolution“ erfolgen.
Diese Thesen
münden in teils sehr konkrete, manchmal auch kleinteilige Empfehlungen für das
politische System insgesamt, aber auch für einzelne Politikbereiche wie
Sozialstaat, Wirtschaft, Verteidigung/Inneres (die sogenannten „Machtministerien“)
und Außenpolitik. Wesentlich zum Verständnis der Stoßrichtung sind die Empfehlungen
zum politischen System:
- Rückkehr
zu einem „wirklichen Föderalismus“ - Verkürzung
der Präsidentenamtszeit auf fünf (von heute sechs), der Legislaturperiode der
Staatsduma auf vier Jahre (von heute fünf) - Wiedereinführung
von Direktmandaten im Parlament - Regierungsbildung
durch die Parlamentsmehrheit - der Föderationsrat
wird wieder vom Volk direkt gewählt - ebenso
die Gouverneure und Republikspräsidenten - wirkliche
Unabhängigkeit der Gerichte - Verbesserung
der Existenz- und Arbeitsbedingungen von NGOs
Außerdem soll das
Innenministerium vollständig umgebildet werden und die Innenministeriumstruppen
zugunsten einer „Nationalgarde“ aufgelöst, ebenso wie der Inlandsgeheimdienst
FSB (!). Außenpolitisch wird die EU als bevorzugter strategischer Partner
genannt und der Beitritt in die NATO für wünschenswert gehalten, freilich erst mittel-
bis langfristig und nach ihrer umfassenden „Reform“, wobei ungesagt bleibt, was
diese beinhalten müsste.
Insgesamt macht
die Studie einen eher eklektischen Eindruck. Einige Themenbereiche sind sehr
ausführlich und bis in kleinere Details behandelt. Nach den sehr detaillierten
Forderungen zu Änderungen im politischen System werden Außen- und
Verteidigungspolitische Fragen nur summarisch erörtert. Korruption und die
demographische Entwicklung, zwei der größten Herausforderungen für jede
russische Regierung fehlen völlig. Das ist umso verwunderlicher, weil in beiden
Politikbereichen das Versagen des Putinschen Systems besonders hervorsticht.
Sollte man die
Studie in einer Hauptthese zusammen fassen, so hieße sie wohl „Zurück zur
Verfassung“. Das ist durchaus pikant, weil darin eine doppelte implizite
Anschuldigung an Putin (und Medwedjew) enthalten ist: Erstens, die Verfassung
gebrochen zu haben und damit zweitens nicht effektivere sondern ineffektivere
Politik gemacht zu haben.
Rezeption und Diskussion
Die öffentlichen
Rezeption und Diskussion fand vorwiegend in der liberalen Presse und im
Internet statt. Während bei der Vorstellung der Studie Detailkritik im
Vordergrund stand, überwog hier die Frage nach ihren Adressaten und danach, an
welche Träger der angestrebten politischen und gesellschaftlichen Veränderungen
die Autoren gedacht haben. Der Politologe Dmitrij Oreschkin drückte das noch
während der Vorstellung der Studie so aus: Gleichgesinnten seien die
Erkenntnisse und Empfehlungen nicht nötig, alle im Saal würden sie wohl,
ungeachtet kleinerer Nuancen, teilen. Politische Opponenten läsen solche
Arbeiten nicht. Für die Medien hätte die Studie kürzer und griffiger sein und
den Machthabern hätte man mit konkreteren, direkter umsetzbaren Vorschlägen
kommen müssen.
Erheblich weiter
geht Georgij Satarow, Präsident der Stiftung INDEM, in den 1990er Jahren Berater
in der Präsidentenadministration unter Boris Jelzin, in seiner Kritik. Man
müsse nicht so sehr den Text lesen als den Subtext zu verstehen versuchen,
schreibt er in einem Beitrag auf der Website kasparov.ru unter der Überschrift
„Vertreibung ins Paradies“. Dieser Subtext zeige, dass sich INSOR und seine
ExpertInnen als ein Teil der Macht habenden politischen Elite betrachten, wenn
auch als deren vorübergehend außer Funktion gesetzten Avantgarde. Ihre Botschaft
an Medwedjew (in der Hoffnung, dieser wolle und könne Putin umgehen,
hintergehen, ersetzen, vielleicht gar absetzen) sei: Lasst uns nur machen, wir
machen es richtig, auch wenn nur 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung so wollen
wie wir und wir das deshalb nicht selbst durchsetzen können. Die Botschaft sei
also im Kern undemokratisch: Wir (die Autoren) und ihr (die Macht Habenden) gegen
das unmündige, gemeine Volk. Das erkläre auch das seltsame Genre des Textes als
Empfehlung an den Präsidenten.
Auch Masha
Lipman, Chefredakteurin der vom Moscow Carnegie Center herausgegebenen
politischen Vierteljahresschrift „Pro et Contra“, argumentiert in einem Beitrag
im „Jezhednewnyj Zhurnal“ unter der Überschrift „Neue verbale Freiheit“ in
diese Richtung. Inhaltlich sei die Studie ein durchaus nicht unübliches
Sammelsurium „liberaler Träume“, die aber allem widersprechen, was in den
vergangenen zehn Jahren unter Putin (und auch Medwedjew) durchaus systematisch an
Politik umgesetzt wurde. Man könnte das Ganze also als folgen- weil machtlose „intellektuelle
Übung“ abtun, wäre da nicht die Kuratorenschaft Medwedjews, des Präsidenten,
über das ausübende Institut. Folglich müsse sich die Studie mit ihren durchaus
konkreten und in dieser Konkretion revolutionären Forderungen in guter
russisch-liberaler Tradition „an die Zaren“ wenden. Doch warum um Himmels
Willen, so fragt Masha Lipman, sollte Medwedjew oder noch zweifelhafter Putin diesen
Ratschlägen („Forderungen“ könnten es ja nicht sein) folgen? Ihre Antwort
ähnelt der Georgij Satarows: Aus Sicht der Autoren sei es nur Zufall und letztlich
ungerechtfertigt, dass sie als funktionelle und intellektuelle Avantgarde nicht
an der Macht beteiligt sind. Aus dieser Quelle speise sich die der Studie und
ihrem Gestus innewohnende Hybris, sich eine Modernisierung Russlands nur gegen
eine Mehrheit der Bevölkerung, die „dumme Masse“ vorstellen zu können. Deshalb,
so schließt Lipman, ist die Studie wohl eben doch nicht mehr als eine nette intellektuelle
Übung, die aber, immerhin, davon zeugt, dass der „Raum des Erlaubten“ in den
vergangenen Monaten ein wenig größer geworden ist.
Die harten Urteile
von Satarow und Lipman mögen ein wenig ungerecht sein, weisen aber auf ein
grundsätzliches Problem aller oppositioneller Politik im heutigen Russland, selbst
der, die sich sogleich auf die Straße begibt. Die russische Gesellschaft ist im
vergangenen Jahrzehnt politisch immer apathischer (gemacht) geworden oder, wie
es Alexander Ausan,
Wirtschaftsprofessor und Präsident des „Instituts Nationales Projekt
Gesellschaftsvertrag“ unlängst in einem Vortrag ausdrückte: „Die russische
Nation hat sich in den Urlaub zurück gezogen.“
Surkow
Das ist, in
Zeiten der Wirtschaftskrise, aber nicht nur ein Problem oppositioneller
Politik, sondern von Politik insgesamt. Auch Medwedjew und Putin sind auf der
Suche nach gesellschaftlichen Kräften, auf die sie sich in ihren
Modernisierungsbemühungen, von deren grundsätzlicher Ernsthaftigkeit ich
ausgehe, stützen können. Vor allem weil ihre bisherigen Antworten
unbefriedigend geblieben sind, hat die INSOR-Studie trotz aller Kritik einen
Nerv getroffen. Selten in den vergangenen Jahren wurde ein Text nicht von oben
so lebhaft und öffentlich diskutiert.
Indirekt
beteiligte sich sogar einer der Hauptadressaten mit zehn eigenen Thesen an der
Diskussion. Einige Tage nach der öffentlichen Vorstellung der Studie, gab
Wladislaw Surkow, gemeinhin als „Erfinder der gelenkten Demokratie“ geltender
stellvertretender Leiter der Präsidentenadministration, der Tageszeitung
Wedomosti ein Interview unter dem Titel „Das Wunder ist möglich“. Das ist
doppelt bemerkenswert. Zum einen zieht es Surkow in der Regel vor graueeminenzenhaft
nicht-öffentlich zu agieren. Zum zweiten ist die liberale und gemeinsam mit dem
Wall Street Journal und der Financial Times heraus gegebene Wirtschaftszeitung
Wedomosti, eher eine Plattform für oppositionelle Zwischenrufe. So hat Jewgenij
Gontmacher, Mitarbeiter von INSOR und einer der Autoren der Studie, vor einem
Jahr in Wedomosti vor einem Jahr Surkow mit dem späten sowjetischen grauen
Politbürokardinal Suslow verglichen. Surkow begab sich also auf „feindliches“
Territorium.
Selbstverständlich
äußerte sich der Kremlideologe nicht direkt zur INSOR-Studie. Er verteidigte
den jüngst verkündeten Plan des Kremls, ein „russisches Silicon Valley“
aufzubauen. Diese Ansiedlung soll als eine Mischung aus
Hochtechnologie-Unternehmen und (üppig staatlich geförderter) Spitzenforschung Russlands
Wirtschaft einen entscheidenden Modernisierungsschub geben. Die Idee solcher im
anglisierten wirtschaftspolitischen Neusprech auch auf Russisch „Cluster“
genannter Innovationsinkubatoren ist gerade in Russland nicht sonderlich neu,
sondern war in der zentral planenden Sowjetunion ein Standardverfahren. In
seinem Interview kommt Surkow noch auf andere historische Parallelen aus der
frühen Sowjetunion direkt zu sprechen. Das sei damals, vor dem Krieg, eine
Industrialisierung durch Angst gewesen. Eine postindustrielle Gesellschaft, so
Surkow, entstehe dagegen nicht „durch Schrecken“. Also brauche man andere
zeitgemäßere Anreize, um Eigeninitiatve zu stuimulieren. Außerdem brauche es
Offenheit der Welt gegenüber, wie es sie sogar in noch weiter zurückliegenden
Zeiten gegeben habe. Ein erfolgreiches Beispiel sei „deutsche Vorstadt“ in
Moskau im ausgehende Mittelalter, in der sich Fachleute aus aller westlich der
Rus' gelegenen Welt ansiedelten.
Doch weiter kommt
Surkow den Liberalen nicht entgegen. Ganz den Mächten des staatsfreien Spiels,
wie es die INSOR-Studie vorschlägt, mag er diese Entwicklung aber nicht
überlassen. Mit deren Autoren streitet Surkow indirekt darüber, was zuerst
kommt: Modernisierung oder Demokratisierung. Die Studie legt den Schwerpunkt
auf wieder zugelassene politische Konkurrenz: Konkurrenz werde zu besserem
Staatshandeln führen, das wiederum der Wirtschaft und der Gesellschaft Raum für
innovative und nachhaltige Modernisierung biete. Daran glaubt Surkow
selbstverständlich nicht. Für ihn ist weiterhin staatliche (soll heißen seine,
denn er folgt damit der eigenen Definition von „gelenkter Demokratie“) „Handsteuerung“
nötig. Man habe schlicht nicht die Zeit, zu warten, bis sich etwas von selbst
entwickele, sondern müsse die Kraft des unter Putin „konsolidierten Staates“
nutzen, die Wirtschaft, auch die private, möglichst schnell voran zu bringen.
Das wird wie eine Art Sachzwang dargestellt, denn gleichzeitig gibt auch Surkow
in seinem Interview zu, dass die bisherigen staatliche Versuche, innovative
Industrien anzusiedeln und zu entwickeln meist weniger erfolgreich waren.
Es liegt was in der Luft…
Damit schließt
sich der Kreis. Das Problem des politischen Regimes ist, dass es sich zum
Machterhalt fast ausschließlich auf die immer korrupter und unkontrollierter um
administrative Ressourcen konkurrierende Wirtschafts- und Beamteneliten stützt.
Dieses Konstrukt wurde in der Vergangenheit durch zwei weitere teils Loyalität,
teils Duldung generierende Ressourcen abgesichert: Zum einen das enorme
Wirtschaftswachstum, das es erlaubt hat trotz der großen Transaktionskosten
dieses Politik- und Wirtschaftsmodells ausreichend Wohlstand nach „unten“
durchsickern zu lassen. Zum anderen eine Ideologie nationaler Konsolidierung
mit immer stärker werdenden Rückgriffen auf sowjetische Residuen bis hin zur
schleichenden Rehabilitierung Stalins als „erfolgreicher Modernisator“.
Die gesellschaftlichen
Gruppen, auf die sich das Putin-Medwedjew-Regime stützt haben wenig Interesse
an und geringe Fähigkeiten zu Veränderung. Die Chancen so zu einer
durchgreifenden wirtschaftlichen Modernisierung des Landes zu kommen sind klein.
Alle bisherigen mit Medwedjew verbundenden Modernisierungsanstrengungen
schaffen es nicht, siehe Surkow, aus diesem Teufelskreis heraus zu kommen. Man
könnte sagen: Selber schuld! Die „gelenkte Demokratie“ hat in den vergangenen
Jahren alle Alternativen, soll heißen gesellschaftlichen und politischen Kräfte,
die zu Trägern einer, wie ja auch Surkow sagt, notwendigen „postindustriellen Modernisierung“
werden könnten, zugunsten des Machterhalts systematisch zerstört.
Das ist auch der
Hauptgrund, weshalb sich die INSOR-Studie an den „guten Führer“ und nicht an
irgendeine Opposition richtet. Denn was sagen die Autoren, um Georgij Satarow
noch ein wenig zuzuspitzen, zwischen den Zeilen? Sie sagen, es muss eine
Revolution von oben geben, die das jetzige Regime ablöst. Eine Revolution oder
auch nur Veränderungen, die von unten, aus der Gesellschaft kommen, sind aus
ihrer Sicht (und damit stehen sie nicht allein) unwahrscheinlich.
Mehr noch, sie müssen um Gottes Willen vermieden werden. Wegen der damit
verbundenen Transaktionskosten. Aber vor allem, weil niemand, weder Regierung
noch Opposition dem Volk traut. Das könnte sich erdreisten, nicht zwischen den
jetzigen Machthabern und ihren liberalen Kritikern zu wählen, sondern nationalistische
Populisten von links, wahrscheinlicher aber von rechts vorziehen.
Aus diesem Grund
ist auch die scharfe Kritik an der INSOR-Studie, die hier stellvertretend durch
die Artikel von Georgij Satarow und Masha Lipman dargelegt wurde und die sehr
weit geteilt wird, zwar richtig aber hilflos.
Die gelenkte Öffentlichkeit in Russland ist in
den vergangenen Monaten tatsächlich ein wenig weiter geworden. Der Medienraum,
in dem auch Kritisches gezeigt, gesagt und geschrieben werden kann, ist größer
geworden. Das gilt nicht nur für die wenigen freien Zeitungen und das Internet,
sondern sogar für die zentralen Fernsehkanäle. Sogar bei Sitzungen des
Staatsrates im Kreml erklingen mitunter Forderungen nach einer Liberalisierung des
politischen Systems. Den Ton hat Medwedjew selbst mit einigen kritischen Reden
und Veröffentlichungen ja bereits im Herbst vorgegeben. Premierminister Putin
hat dazu bisher größtenteils geschwiegen und nur von Zeit zu Zeit einige
kleinere Gegengewichte gesetzt. Er hat dabei aber immer vermieden, Medwedjew
direkt zu kritisieren.
Politik ist aus
dieser Raumerweiterung aber bisher nicht geworden. Bisher sind alles Worte
geblieben oder, wie es Masha Lipman ausdrückt, „intellektuelle Leibesübungen“. Das
ist die immer größer werdende Hypothek der Medwdjewschen Präsidentschaft. Die
Zeit läuft davon.
So ist auch in
der Diskussion der INSOR-Studie ist nicht ganz klar, was die Protagonisten mehr
treibt: Hoffnung oder Verzweiflung. Es ist, und druchaus nicht nur in
oppositionellen Kreisen, zu einem Gemeinplatz geworden, dass es so nicht weiter
gehen kann. Gleichzeitig weiß aber niemand so recht zu sagen, wie ein politischer
Wechsel bewerkstelligt werden soll. Medwedjew wird seit einiger Zeit
gelegentlich mit Gorbatschow in seinen ersten zwei Jahren als Generalsekretär
der KPdSU verglichen. Damals waren die bevorstehenden epochalen Änderungen kaum
zu erahnen. Vor allem äußerlich, also in Diktion, Stil und Personal, schien
weiterhin fast alles still zu stehen. Aus diesem Vergleich spricht Hoffnung.
Doch, so bemerken Skeptiker, Gorbatschow habe im Gegensatz zu Mewedjew keinen
lebendigen Andropow im Rücken gehabt. So zweifelhaft historische vergleiche
auch sein mögen: Auch heute haben viele Menschen in Russland nur die Hoffnung auf bessere Einsicht des (heute:
der) Zaren. Meist gegen besseres Wissen.
Dieser Artikel ist ursprünglich, in leicht abweichender Fassung, am 12.3.2010 in den Russlandanalysen Nr. 198 erschienen