Keine Demonstrationsfreiheit in Russland: Proteste gegen die Aushöhlung der Verfassung

Heute Abend demonstrierten in Moskau wieder mehr als 500 Menschen für die Demonstrationsfreiheit in Russland. Mehr als 100 DemonstranInnen wurden von Polizeisondereinheiten, der sogenannten OMON festgenommen. Hier Fotos. Ähnliches geschah in St. Petersburg. Dort nahm die Polizei 25 von rund 200 DemonstrantInnen mit. Der Protest richtige sich gegen die vollständige Aushöhlung des Demonstrationsrechts in Russland in den vergangenen vier, fünf Jahren. Die DemonstratInnen forden den Schutz des Paragrafen 31 der russischen Verfassung, der die Demonstrationsfreiheit schützt. Doch wie so viele Rechte in Russland ist auch das der Demonstrationsfreiheit durch Verwaltungsvorschriften soweit eingeschränkt, dass es praktisch aushebelt. Deshalb will eine große Koalition aus Menscnrechtlern und Oppositionsgruppen nun jeden 31., den der Kalender werden lässt, für ihr Demonstrationsrecht auf die Straße gehen.

Weder in Moskau noch in St. Petersburg war die für heute rechtzeitig angemeldete Demonstration genehmigt worden („abgestimmt“ heißt das im Verwaltungsneusprech des putinschen Russland), in beiden Städten, weil der angemeldete Demonstrationsort angeblich durch eine andere Veranstaltung (übrigens eine der jeweilgen Stadtverwaltung) belegt sei. Ähnliches passiert bei fast jeder von der Verwaltung als „oppositionell“ eingestufter Demonstration. So war es auch beim letzten Mal vor genau einem Monat am 31. Dezember. Damals war unter anderem die 82-jährige Vorsitzende der Moskauer Helsinki Gruppe, Ludmila Alexejewa verhaftet worden.

Gleiches passierte am 19. Januar, als Menschenrechts- und Antifagruppen zum Gedenken an den Anwalt Stanislaw Markelow und Journalistin Anastassija Baburowa, die ein Jahr zuvor in Moskau auf offener Straße erschossen wurden, und gegen rechte Gewalt demonstrieren wollten. Die Behörden verweigerten die „Abstimmung“ der Demonstrationsroute und genehmigte nur zwei Mahnwachen. Der Weg der DemonstratInnen von der ersten zur zweiten Mahnwache wurde dann von der Polizei als nichtgenehmigte Demonstration gewertet. Etwa 60 DemonstrantInnen wurden festgenommen, aber nach Vermittlungsgesprächen alsbald wieder freigelassen.

Was mit den heute Festgenommenen passieren wird, ist noch unklar. Auf die Frage nach dem Grund ihrer Festnahme wurde vielen geantwortet: Widerstand gegen die Polizei. Das ist ein härterer Vorwurf als einfach nur die Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration. Woher das schon bekannt ist? Moderne Zeiten. Den Festgenommenen wurden ihre Mobiltelefone und vor allem Smartphones nicht abgenommen. Einige bloggten nicht nur von der Demonstration, sondern auch aus den Polizeibussen heraus, in die sie nach der Festnahme gebracht wurden. Oder sie telefonierten mit der Presse.

So machte es Oleg Orlow, Vorsitzender des Menschenrechtszentrums Memorial und einer der OrganisatorInnen der Demonstration. Die Polizei habe sofort zugegriffen, sagte er der Nachrichtenagentur Interfax. Er sitze nun in einem Polizeibus, zusammen mit 16 anderen Festgenommenen. Außer diesem Bus gebe es noch mindestens drei andere. Es würden einfach viele Demonstranten festgenommen. Bisher verhalte sich die Miliz aber mehr zurück und sei weniger agressiv als bei der Demonstration am 19. Januar. Andere Blogeinträge bestätigen mehr oder weniger die Worte Orlows. Nur die Frage, ob sich die Polizei nun zurück halte oder nicht, wird unterscheidlich bewertet. Verletzte gibt es aber offenbar nicht.

Festgenommen wurden unter anderem auch Boris Nemzow von der oppositionellen Bewegung „Solidarnost“ (in den 1990er Jahre war er erst Gouverneur von Nischnij Nowgorod und später stellvertretender Regierungschef), Lew Ponomarjow von der „Bewegung für Menschenrechte“ und erneut Ludmila Alexejewa. Die Festnahme der prominenteren DemonstrantInnen passt den MenschenrechtlerInnen und Oppostionellen durchaus ins Konzept. Der bisherigen Umgang der Gerichte mit Wiederholungstätern beim unerlaubten Demonstrieren müssten sie für die ersten „Ordnungswidrigkeiten“ mit kleineren Geldstrafen belegt werden, später dann in Kurzarrest genommen werden. Bei ganz Unbelehrbaren müssten danach Gefängnisstrafen folgen.

Gerade diese absurde und öffentlichkeitswirksame Eskalation haben die OrganisatorInnen im Sinn. Kaum jemand von ihnen hofft auf ein schnelles Einlenken des Staates (hier in Form der Stadt Moskau und ihres Law-and-Order-Bürgermeisters Luschkow). Gleichzeitig kann aber auch niemand diese Halsstarrigkeit erklären, mit der selbst kleine und kleinste oppositionelle Demosntratationen inzwischen nicht mehr zu gelassen werden. Dioe Erfahrung der vergangenen Jahre hat sowohl der Opposition als auch dem Staat gezeigt, dass sich zu Demokratiefragen nur wenige Menschen heute in Russland auf die Straße mobilisieren lassen. Vielleicht fürchten die Kremlstrategen, dass sich die Aktionen für eine demokratische (Wieder-)Öffnung mit sozialen Protesten verbinden könnten. Aber auch soziale Proteste sind, trotz Wirtschaftskrise, bisher die Ausnahme und konnten meist sehr schnell wieder eingedämmt werden.

Immerhin gab es gestern (Samstag, 30.1.10) in Kaliningrad eine erstaunlich große Demonstration der vereinigten Opposition, angefangen von der Auch-Kreml-Partei „Gerechtes Russland“ über die Kommunisten bis Jabloko, Solidarität und Anderes Russland. nach unterscheidlichen Schätzungen demonstrierten zwischen neun- und zwölftausend Menschen gegen eine 20- bis 30-prozentige Erhöhung der Kommunalabgaben zum Jahresanfang und die großen Schwierigkeiten aus der Enklave in die benachbarten EU-Staaten Polen und Litauen zu gelangen. Die Demonstration war genehmigt worden und wurde von der Polizei nicht gestört. 

Es gab vor drei Jahren schon einmal eine oppositionelle Demonstrationswelle in Russland. Ein sich das „Andere Russland“ nennendes Bündnis aus Demokraten, Linksradikalen und Nationalbolschewisten forderte im Frühjahr 2007 den Rücktritt Putins und eine Änderung des politischen Systems. Ihre Demonstrationen, vor allem in Moskau und St. Petersburg wurden mit großer Härte von der Polizei auseindergetrieben. Ich habe das seinerzeit in einem Artikel für die Russlandanalysen (Nr. 132, S. 14-16) unter dem Titel „Über die Zerstörung des öffentlichen Raums. Der Verlust der Politik in Putins Russland“ beschrieben. Der öffentliche Raum ist bis heute zwar kein Vakuum, aber die Luft dort ist sehr, sehr dünn. Heute einigt die DemonstrantInnen keine Froderung nach einer Politikänderung mehr. Sie engagieren sich für das auch in der russischen Verfassung garantierte Menscherecht, öffentlich und friedlich seinen politischen Forderungen durch Demonstrationen Ausdruck zu verleihen. Vielleicht ein hoffnungsvoller Anfang?