Warum Wahlfälschungen in Russland kaum jemanden interessieren und warum es der Kreml diesmal trotzdem zu weit getrieben haben könnte – ein wenig zumindest

Ich liebe ein Bonmot von Lilija Schewzowa: Normaler und idealer Weise gelte für Wahlen: Klare Regeln – unklarer Ausgang. In Putins Russland hingegen: Unklare Regeln, klarer Ausgang. Das nennt man „gelenkte Demokratie“. Nun sind Gesellschaften selten statisch, die gegenwärtige russische schon gar nicht. Sehr zum Ungemach der herrschenden politischen Elite. Die jüngsten Regionalwahlen und der darauf folgende Skandal zeigen das deutlich.

Der Schewzowasche Bonmot bedeutet ursprünglich, dass das Ergebnis von Wahlen vom Kreml vorbestimmt, also kontrolliert wird. Das stimmt zwar auch für die jüngsten Wahlen noch weitgehend, aber nicht mehr ganz. Nun ist es aber nicht die weitgehend machtlose Opposition, die die Kremlpläne durcheinader bringt, sondern Teile der herrschenden politischen Elite. Sie „übererfüllen“ den Plan und machen damit unglaubwürdig, was das Putinsch-Medwedjewsche System so füglich auszubalancieren versucht. Wie ist das gemeint?

Es gehört zum Neuen, zum Modernen des Putinschen Autoritarismus, möglichst nur so viel zu manipulieren, wie zur jeweils aktuellen Zielerreichung notwendig ist. Das ist ein durchaus anspruchsvoller Austarierungsprozess, der einiges Geschick, Fingerspitzengefühl und Professionalität voraussetzt. In den frühen Putinjahren wurde dafür viel Geld eingesetzt und auch immer wieder externe Experten eingekauft. Mit dem Auf- und Ausbau von Einiges Russland, dieser Partei genannten Verinigung mit ihrem „Führer“ Putin, der ihr gar nicht angehört, wurde diese externe Expertise immer weniger nötig. Einiges Russland gewann und gewinnt auch so Wahlen, sozusagen aus eigener Kraft.

Immer wieder hat dieses feine Austarieren nicht so recht funktioniert. Meist war das auf Überreaktionen an der politischen Spitze, mitunter bei Putin selbst, zurück zu führen. Immer in solchen Momenten wurden die Manipulationsmethoden zu grob. „Zu grob“ meint hier, dass sie öffentliche Empörung (im Ausland, aber auch in Russland) hervor riefen, eine Empörung, die durch nachgeschobene Kompromisse oder beschwichtigende Gesten eingedämmt werden musste. Gelegentlich wurden vom Kreml sogar reale, wenn auch kleine Zugeständnisse an oppostionelle Kräfte gemacht. So geschah es in Folge der Hysterie um das neue NGO-Gesetz und auch ein wenig nach den bisher letzten Parlaments- und Präsidentenwahlen. Zwar hat die herrschende politische Elite unter Putin noch nie etwas wirklich Substantielles zurück genommen, aber das Tempo musste gedrosselt werden, um den Motor wieder rund laufen zu lassen.

Die Regionalwahlen Anfang Oktober haben dem nun etwas Neues hinzugefügt. Die öffentlichen Proteste haben erstmals nicht in erster Linie ewtas mit oppositoneller Empörung zu tun (obwohl sie auch dabei ist), sondern mit der beginnenden Kannibalisierung der Kreml-Loyalen: Das „Einiges Russland“ hat nun auch in zentralen Regionen und selbst in Moskau (in der Perepherie, wie z.B. in Tschetschenien oder Baschkirien ist das schon länger der Fall, stützt sich aber meist auf ethnisch organisierte Teileliten) seinen Anspruch auf ungeteilte Machtteilhabe durchzusetzen versucht. Opfer waren eben nicht nur notorische Oppositionelle wie die Jabloko-Partei, sondern des Kremls eigene Geschöpfe wie „Gerechtes Russland“ oder loyale Opposition wie Schirinowksij und die Kommunisten. Der Grund dafür dürfte einerseits im Wesen dynamischer Systeme liegen, die sich weiter bewegen müssen, um nicht bei Stillstand umzufallen.

Ein wesentlicher Antireb der Dynamik des Putinschen Systems ist aber die Verquickung von politischer Loyalität und ökonomischer Teilhabe. Das geschieht vorwiegend über die „Privatisierung“ staatlicher oder staatskontrollierter Ressourcen durch die Verfügungsberchtigten, also Beamte und sogenannte Volksvertreter. Beispielhaft kann das am Moskauer Stadtparlament deutlich gemacht werden. In Moskau ist sehr viel Geld zu verteilen. Wohin dieses Geld fließt, hängt nicht zuletzt von den Entscheidungen der Abgeordneten im Stadtparlament ab, die davon („natürlich“ würde dazu fast jede und jeder in Russland mit lebensklugem Alltagszynismus sagen) in erster Linie mit profitieren. Nach unterschiedlichen Einschätzungen ist ein Mandat zwischen mehreren Dutzend und mehreren Hundert Millionen US-Dollar wert, je nach Funktion, Ausschusssitz und ähnlichen Kriterien.

Bei solchen Einsätzen fällt es schwer, aufgrund höherer politischer Erwägungen irgendwo im Kreml oder im Weißen Haus zu teilen, mit wem auch immer. Das Ergebnis (32 von 35 Sitzen für Einiges Russland, die restlichen drei für die Kommunisten) muss dabei nicht unbedingt durch koordinierte Manipulation zustande kommen. Es kann durchaus auch die eher ungeplante Summe eine individueller Handlungen und Entscheidungen zur, erneut individuellen, Gewinnmaximierung gewesen sein. Das passt sehr gut zum inzwischen schon klassischen Spruch des ehemaligen Premierministers Viktor Tschernomyrdin aus der ersten Hälfte der 1990er Jahre: “ Wir wollten es besser machen, aber es ist wie immer gekommen.“

Erstaunlich ist bei all dem, dass sich Protest fast nur noch innerhalb des engsten Kreises der politisch Beteiligten regt, also bei denjenigen, die, im Wortsinne, etwas verloren haben. Die (Wahl-)Bevölkerung und selbst ein großer Teil der Opposition und hier insbesondere der intellektuellen Elite, bleibt weitgehend unbeteiligt. Der doppelte Grund ist relativ einfach: Das Geschehen entspricht weitgehend den Erwartungen und eigene Einwirkungsmöglichkeiten werden schon lange nicht mehr gesehen. Diese Apathie macht im Übrigen Präsident Medwedjew gerade zu schaffen, jedenfalls wenn man annimmt, dass seine Modernisierungsapelle mehr sind als nur das Spiel einer (seiner) Rolle im Theater der gelenkten Demokratie: Diejenigen, die Medwejews Aufrufen Dynamik verleihen könnten, weil sie professionell und beweglich genug sind, glauben schon längst nicht mehr daran, dass sie ernst gemeint sein könnten.


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