Am vergangenen Sonntag wurde in fast allen russischen Regionen neue Regional und Kommunalparlamente gewählt und es gab nur einen Gewinner: Die Kremlpartei Einiges Russland (ER). In Moskau, einer traditionell kremlkritischen Region, erzielte ER (deren „Leader“, aber nicht Parteimitglied Putin ist) rund 65 Prozent und 32 von 35 Sitzen. Die restlichen drei Sitze gingen an die Kommunisten, während alle anderen Parteien an der Sieben-Prozent-Hürde scheiterten. Das sind schon fast KPdSU-Ergebnisse. Doch Proteste blieben anfangs weitgehend aus.
Das hat gute Gründe. Von den sieben noch offiziell registrierten (lese: zugelassenen) Parteien sind alle bis auf Jabloko direkt mit dem Kreml verbandelt. Und Jabloko schloss, so behaupten böse Zungen, zu den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament einen Teufelspakt mit Bürgermeister Luschkow, einem der ER-Granden: Man kritisierte das jüngst innerhalb der politischen Machtwelite unter Druck geratenen Dauerstadtoberhaupt (seit 1992) im Wahlkampf nicht in der Hoffnung (die schon erwähnten bösen Zungen behaupten, es gebe eine Abmachung), so über die Sieben-Prozent-Hürde gelassen zu werden. Doch vergeblich, trotzdem Exit-Polls von Kremlnahen Umfrageinstituten Jablok (aber auch der Schirinowskij-Partei LDPR und dem „Gerechten Russland“) gute Hoffnungen gemacht hatten. Für den angeblichen Pakt wird nun schon parteiintern der Rücktritt von Parteichef Sergej Mitrochin gefordert.
Ein weiterer Grund für die Stille ist, dass Wahlen eigentlich schon lange niemanden mehr interessieren. Das Ergebnis wird als bekannt und vorausbestimmt angenommen und allenfalls Rentner im Sonntagstaat und mit allen Orden vor der Brust nutzen den Gang ins Wahllokal. Immerhin ist es eine Möglichkeit, unter Leute zu kommen und ein ganz klein wenig hofiert zu werden (was an früher erinnert).
Doch heute gab es plätzlich Lärm. Die drei sogenannten „Oppositionsparteien“ in der Staatsduma mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit für ER, die Kommunisten, die LDPR und das „Gerechte Russland“ begehrten auf. Sie forderten, die ihrer Meinung nach gefälschten Wahlen (Schirinowskij sprach von allein in Moskau einer Millionen zusätzlicher, gefälschter Stimmen für ER) zu annulieren und verließen geschlossen den Saal. Eine unerhörte Demarch und ein Ausbruch aus den ungeschriebenen Regeln, die zwar durchaus scharfe Debaten, keinesfalls aber politische Schritte zulassen. Sogar Wladimir Putin, auf Besuch im fernen Peking, sah sich zu einem Kommentar gezwungen. Nach einer eher schwachen Schelte der „schlechten Verlierer“, die immer etwas zu mäkeln hätten, rief er die Sieger auf, nicht hochmütig und arrogant zu sein. Aus Präsident Medwedjews Kreml fehlt bisher eine klare Reaktion, ein Medwedjew-Sprecher gab nur zu Protokoll, dass „es sicher eine geben“ werde.
Was war das nun? In Oppositionskreisen und bei denjenigen, die die neuen liberalen Signale Medwedjews der vergangenen Wochen als Hoffnungszeichen auf ein neues Tauwetter interpretieren, steigt bereits der Erregungspegel. Von einem „ernsten Machtkampf“ innerhalb der Machtelite ist die Rede, von einer Spaltung gar. Medwedjew fühle sich langsam stark genug, sich energischer von Putin abzusetzen. Doch so weitgehende Interpretationen sind wohl mehr Mutmache als auf harte Fakten gegründet. Tatsächlich aber hat es wieder einmal eine interne Fehlschaltung im „System Putin“ gegeben. Das sozusagen „natürliche“ Monopolstreben der Kremlpartei ER ist zu weit gegangen. Dabei geht es nicht nur und vielleicht nicht einmal in erster Linie um politische Macht, sondern um den mit ihr auf allen Ebenen zusammen hängenen Zugang zu und die verfügung über ökonomische Ressourcen. Ein Abgeordnetensessel im Moskauer Stadtparlament ist im wahrsten Sinne des Wortes viele Millionen Dollar wert. Auch die kleineren Kremlparteien haben ihre Klientel zu versorgen. Zudem ist der Ressourcenzugang neben dem grundsätzlichen O.K. aus dem Kreml auch die wichtigste Voraussetzung für die weitere Beteiligung an der politischen Macht, und sollte es am Katzentisch sein. Das ist ein (fast) geshlossener Kreis und wer herausfällt, bleibt mit großer Wahrscheinlichkeit draußen.
Ob daraus politische Veränderungen oder gar eine politische Krise erwachsen, darf aber bezweifelt werden. Bisher ist es den Moderatoren des Kremls noch immer gelungen, die Wogen im Familienstreit wieder zu glätten.