Gelenkte Demokratie – nur undemokratisch? Oder auch gemeingefährlich?

Kaum jemand hält das aktuelle politische System in Russland noch für demokratisch. Manch einer findet die neurussische Mischung aus demokratischen Institutionen und ihrer undemokratischen Füllung dem Land durchaus angemessen. Man müsse eben ein wenig Geduld mit den (zurückgebliebenen?) Russen haben, heißt es bei den oft so genannten Russlandverstehern. Nach mehreren Jahrhunderten russisches Imperium und gleich anschließenden 70 Jahren Sowjetunion dauere es eben ein bisschen, bis echte Demokratie gelernt sei. Das denkt auch der Kreml, zum Bespiel in Person von Oberideologe Wladislaw Surkow: Die demokratie-unerfahrenen Menschen in Russland bräuchten noch ein wenig „handgesteuerte“ Nachhilfe (oder: Nachbesserung“) bei ihren formal demokratischen Entscheidungen. Sie seien halt noch nicht so weit. Dieses Korrigieren eines „dummen“ oder „fehlgeleiteten“ Volkswillens wird dann euphemistisch „gelenkte Demokratie“ genannt. So weit, so schlecht.

Macht nichts, könnte man meinen, so lange es den Menschen besser geht als vorher oder zumidnest einigermaßen gut. Nun ist diese „Handsteuerung“ durch Kreml und Weißes Haus aber keineswegs harmlos. Sie tut ganz wirklich Menschen weh. Die handgesteuerte Demokratie tötet zum Beispiel. Nicht so systematisch wie die Sowjetunion und nicht immer durch die Hand des Staates und seiner „Organe“, aber immer wieder: viele Menschen in Tschetschenien (und heute in Dagestan und Inguschetien), die Journalistin Anna Politkowskaja, den Anwalt Stanislaw Markelow, mehrere Dutzend weiterer JournalistInnen in den vergangenen acht Jahren, Ausländer oder nur einfach anders Aussehende und anders Lebende. Und jede Tote ist eine zuviel.

Andere Menschen wiederum werden zusammengeschlagen, wie unlängst der Menschenrechtler Lew Ponomarjow. Niemand kann sagen, ob das eine Warnung sein sollte, eine Rache oder ob ihn ein paar Banditen einfach nur ausrauben wollten. Der Staat ist so oder so verantwortlich. Er kümmert sich schlicht kaum um den Schutz seiner Bürger – und schon gar nicht um den Schutz seiner Kritiker. Von ihnen werden in letzter Zeit immer mehr direkt bedroht, bedroht dort, wo sie mit ihren Familien und Angehörigen leben, wo es also besonders weh tut und besonders verunsichert. Wohl als „Warnung“ fand der Chefredaktuer des oppositionellen (und von Putin im vorigen Sommer wegen seiner Berichterstattung öffentlich gerügten) Radiosenders „Echos Moskaus“, Alexej Wenediktow, im vergangenen Herbst eine Axt vor seiner Wohnungstür in der Wand stecken. Ein anderer Kremlkritiker, der darüber lieber nicht öffentlich spricht, wird seit Jahresbeginn auf der Straße verfolgt und findet vor seiner Wohnungstür immer mal wieder menschliche Exkremente. So entsteht eine Atmosphäre der Angst.

Meist gibt keine Beweise, dass der Kreml oder andere Vertreter des Staates dahinter stecken (dazu im Gegensatz kann die Durchsuchung der Räume von Memorial St. Petersburg mit folgender Beschlagnahmung der Computerfestplatten durch die Staatsanwaltschaft fast schon  aufrichtig genannt werden). Aber die Straflosigkeit, der sich alle Täter, ob nun staatlich bestellte oder sozusagen auf Privatrechnung Handelnde, recht sicher sein können, die Kremlkritiker, Oppositionelle oder Menschenrechtler so einschüchtern, belästigen oder gar verletzten, macht es jedem Halunken leicht. Die Schutzlosigkeit der Opfer, der Nicht-Angepassten, Oppositionellen, anders Aussehnden und anders Lebenden ist eine der hervorragensten Eigenschaften des von Putin geschaffenen politischen Systems (und Medwedjew will oder kann daran zumindest bisher nichts ändern). Geherrscht wird in Russland heute weniger durch flächendeckende und direkte Repression als durch eben diese Atmosphäre der Unsicherheit und der Bedrohung. Das ist im alltäglichen Leben für viele Menschen fraglos freier und weniger schrecklich als die totalitäre Kontrolle in der Sowjetunion. Die Kehle schnürt es trotzdem zu, schon wenn man daran denkt. Und mehr noch, wenn es wieder jemanden trifft.


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