Heute, am 30. Oktober 2013, dem offiziellen Gedenktag für die Opfer politischer Verfolgung, wurde an einem Moskauer Haus eine Gedenkplatte für Warlam Schalamow, dem großen Erzähler des Gulags, enthüllt. Dieses kleine Ereignis ist besonders. Es ist die erste Gedenkplatte in Moskau, die auch daran erinnert, dass der so Geehrte in der Sowjetunion politisch verfolgt wurde. Wer durch Moskaus Straßen geht, kann viele solche Gedenkplatten lesen. Sie erinnern an SchriftstellerInnen, Zirkusclowns, Generale und WissenschaftlerInnen. Nicht wenige dieser Menschen, an deren Leistungen so erinnert wird, haben irgendwann im Lager gesessen, manche wurden hingerichtet. Doch davon steht nirgends ein Wort.
Die russische Erinnerung, das, ich entschuldige mich gleich für dieses Wort, russische Massenbewusstsein, für das diese Gedenktafeln beispielhaft stehen, ist bis heute ein Einfaches. Die Tafeln sind nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie, Ausdruck staatlicher Politik. Sie befinden sich mit ihren Auslassungen in weitgehendem Einklang mit der Erinnerung der weitaus meisten Menschen in Russland, zumindest mit ihrem öffentlichen Teil. Das möchte ich ein wenig zu erklären versuchen (vergleiche dazu auch den großartigen Vortrag von Arsenij Roginskij, Vorsitzender von Memorial, vom Dezember 2008 „Erinnerungen an den Stalinismus“).
Grundsätzlich neigen Menschen dazu, ihre Erinnerung zu vereinfachen, oder anders, zu begradigen. Was nicht zum (meist guten) Selbstbild passt, wird oft angepasst oder ausgeblendet. Gesellschaften verhalten sich kaum anders. Die Vergangenheit war aber immer komplizierter, weniger eindeutig. Sich diese schwierige Vergangenheit als Gedächtnis anzueignen ist Arbeit. Arbeit, die bewusst und mit Mühe (und oft mit Schmerz) geleistet werden muss.
Die meisten Menschen in Russland scheuen diese Mühe und fürchten diesen Schmerz (wie in fast allen anderen Ländern auch). Dem russischen Staat und seiner Führung kommt das gut zu Pass. Auch er fürchtet eine komplizierte Erinnerung. Es könne nur eine einheitliche, eindeutige Geschichtserzählung geben, hat Präsident Wladimir Putin erst jüngst wieder postuliert, und forderte ein für alle Schulen verbindliches Geschichtsbuch, in dem die historische „Wahrheit“ stehen müsse. Putins Wahrheit, versteht sich. Und die sieht (wiederum in weitgehender Übereinstimmung mit einer großen Mehrheit seiner BürgerInnen) etwa so aus:
Die russische Vergangenheit, vor allem das 20. Jahrhundert, ist eine Aneinanderreihung von Siegen. Die großen Bauten des Sozialismus haben aus einem rückständigen Agrarstaat eine große und moderne Industrienation gemacht. Dieses Land ist zu einer der beiden Supermächte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgestiegen, es hat großes in Wissenschaft und Kultur geleistet, es hat den Kosmos erobert (vor den Amerikanern!), vor allem aber hat es die Welt unter großen Leiden von Hitler und vom deutschen Nationalsozialismus befreit. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg, im Großen Vaterländischen Krieg, ist der heilige Sieg unter vielen Siegen. Darauf dürfen, darauf müssen die RussInnen stolz sein. Und die übrige Welt muss das anerkennen.
Das ist alles richtig. Das war alles so. Es ist nur nicht alles. Die millionenfachen Verbrechen an den eigenen Leuten in der Sowjetunion werden in diesem einfachen Gedächtnis weitgehend ausgeblendet. Es herrscht zwar Konsens darüber, dass der die politische Verfolgung, der Massenterror schlecht war. Es gibt auch kaum Dissens darüber, dass die Opfer rehabilitiert werden mussten und ihnen geholfen werden muss. Aber wer die Täter waren, wer die Verbrechen begangen hat, ja, ob das überhaupt Verbrechen waren ist höchst umstritten.
Ein Grund dafür, vielleicht der wichtigste Grund, ist die Sakralisierung des Staates in Russland. Es war der Staat, der die großen Bauten geschaffen hat. Es war der Staat, der die sowjetische Wissenschaft organisiert hat. Es war der Staat, der das Weltall erobert hat. Es war der Staat, der den Sieg im Weltkrieg errungen hat. Es ist der Staat, der sich um die Menschen kümmert, wie ein gütiger, manchmal aber auch strenger und strafender Vater. Es sind die Menschen, die dem Staat dafür dienen müssen (und manchmal Opfer bringen), dass er im Namen des großen (und heute oft wieder heiligen) Russland all seine heroischen Taten vollbringen kann.
Es war aber auch der Staat, der den Terror befohlen und durchgeführt hat. Es war der Staat, der Millionen Menschen in Zwangsarbeit und oft den Tod geschickt hat. Es war der Staat, der das ganze Riesenreich siebzig Jahre in Gefangenschaft gehalten hat. Doch das, den bösen Staat mit dem guten Staat im öffentlichen Bewusstsein zusammen zu bringen ist schon wieder ein schwieriges Gedächtnis. Zu schwierig bisher für den Geschmack vieler Menschen in Russland.
Privat ist das auf der einen Seite einfacher. Privat weiß (fast) jeder und jede von den Repressierten und Erschossenen in der eigenen Familie zu berichten. Privat kann darüber (in Grenzen) gesprochen werden. Privat können Erinnerungen ausgetauscht werden. Privat kann getrauert werden. Auf der anderen Seite ist es aber auch hier schwierig. Denn neben den Opfern gibt es in (erneut fast) jeder Familie auch Täter. Über sie wird auch in den Familien kaum gesprochen. Und in der Öffentlichkeit schon gar nicht (wenn wir einmal Memorial und eine kleine, unbedeutende Minderheit ausnehmen).
Dabei ist es nicht so, dass die Informationen fehlen würden, weil zum Beispiel viele Archive noch immer nicht oder schon wieder nicht zugänglich sind. Die Informationen sind da. Es gibt hunderte und tausende Arbeiten von HistorikerInnen. Viele Dokumente, insbesondere zum Stalinschen Terror sind veröffentlicht und in Bibliotheken und im Internet auffindbar. Sie sind da, aber die Nachfrage ist klein.
Ähnliches wie für die Erinnerung im Land, gilt für die Außenbeziehungen. Eben weil das Gedächtnis vor allem aus dem Guten, aus den Siegen, aus den, wie es in der Sowjetunion hieß, Errungenschaften besteht, fehlt es an Verständnis, warum Russlands Bild im Ausland so schlecht ist, warum „die uns nicht mögen“. Nur ein Bespiel: 600.000 Sowjetsoldaten ließen ihr Leben bei der Befreiung Polens von deutscher Besatzung. Kein kleines Opfer. Und doch kommen die Polen immer wieder mit ihren 20.000 in Katyn und an anderen Orten in der Sowjetunion 1939 erschossenen Offizieren.
Das lässt sich nur verstehen, wenn vorher eine schwierige Erzählung von Geschichte entstanden und verstanden würde. Eine Erzählung die weder ausschließt (nach dem Motto, weil wir die Guten sind, darf nichts Schlechtes über uns erzählt werden), noch aufrechnet (bezüglich Katyn werden von russischer Seite sehr oft die vielen zehntausend nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920-21 in polnischen Lagern gestorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen ins Feld geführt). So wird aus der (zu) einfachen Erzählung ein (internationales) Problem.
Die Schalamow-Gedenktafel an einem Moskauer Haus ist ein sehr kleiner Schritt hin zu einem komplizierteren Gedächtnis. Hier hat auch der Staat mitgemacht. Die Gedenktafel wurde gemeinsam durch einen Moskauer stellvertretenden Bürgermeister und den Memorial-Vorsitzenden Arsenij Roginskij enthüllt. Andere kleine Schritte unternehmen Organisationen wie Memorial ohne den Staat. Stellvertretend sei hier nur die Aktion „Rückgabe der Namen“ erwähnt, die Memorial, wie seit 2007 jedes Jahr, am 29. Oktober am Solowezkij-Gedenkstein an die Opfer politischer Verfolgung auf dem Lubjankaplatz in Sichtweite des KGB-Hauptquartiers organisiert.
Sehr viel mehr geht gegenwärtig, solange der russische Staat in Übereinstimmung mit einem großen Teil der Bevölkerung in Rundumverteidigungsstellung liegt, kaum. Aber auch dieses Wenige schafft mit die Voraussetzungen, dass es (irgendwann) einmal anders wird.