Unter der Überschrift „Russlands Traum: Gerechtigkeit, Freiheit und ein starker Staat“ haben Felix Hett und Reinhard Krumm von der Friedrich-Ebert Stiftung in den Russlandanalysen Nr. 251 Ende Januar die Ergebnisse einer durch das Soziologische Institut der Akademie der Wissenschaften durchgeführten Studie vorgestellt. Die Ergebnisse wurden in einem vorgestellten Absatz prägnant zusammengefasst:
„83 Prozent der Russen empfinden die Einkommensverteilung in ihrem Land als ungerecht. (…) Demnach hat soziale Gerechtigkeit für die Mehrheit der Befragten höchste Priorität. Ihr Garant kann nach Meinung vieler nur ein starker Staat sein, der die Rechte der Schwachen gegen die Ansprüche der Starken verteidigt. Im persönlichen Leben wünscht die Mehrzahl aller Befragten jedoch keine staatliche Einmischung. Die Qualität einer Demokratie wird weniger an der Achtung politischer als an der Garantie sozialer und rechtsstaatlicher Grundrechte gemessen.“
Soweit, so wenig überraschend. Interessant ist aber die weitgehende Übereinstimmung mit dem immer wieder beschriebenen (wenn auch „ungeschriebenen“) „Gesellschaftsvertrag“ der 2000er Jahre zwischen Staat und Bevölkerung. Der Staat (verkörpert durch den Präsidenten Putin) übernahm es, (wieder) stark zu werden und den Menschen einen immer höheren Wohlstand zu sichern. Außerdem mischte er sich nicht in die persönlichen Angelegenheiten der Menschen ein. Ich würde sogar sagen, sie waren ihm schlicht egal. Im Gegenzug verzichteten die Menschen auf Politik jeder Art und stören „die dort oben“ nicht dabei, den Reichtum des Landes (zu Zwecken der Bereicherung wie des Machterhalts) unter sich aufzuteilen.
Bis zur (Welt-)Wirtschaftskrise funktionierte das mehr oder weniger, wenn auch nicht statisch, so doch in der Tendenz. Putin ließ vom Öl- und Gassurplus genug nach unten durchsickern, damit es (fast) allen wirtschaftlich immer besser ging. Der Staat wurde in vielen Teilen wieder ausreichend funktionsfähig. In Politik jenseits des Kremls versuchte sich nur eine verschwindend kleine, großstädtische Minderheit einzumischen. Und ansonsten, also jenseits sozialökonomischer Begrenzungen, konnte tatsächlich (ebenfalls fast) jede/jeder nach ihrer/seiner Façon selig werden (oder eben nicht). Konnte. Seither bröckelt es kräftig.
Es fing an mit dem Vertrauen in die wirtschaftliche Entwicklung, das als Folge der Wirtschaftskrise (und des darauf folgenden, aber fehlenden Modernisierungsdiskurses) immer kleiner wurde. Dem entspricht das Zunehmen der tatsächlichen und gefühlten Korruption. Dann ließ Putin selbstherrscherlich seine Rückkehr in den Kreml verkünden. Diesem Schritt folgten massive Wahlfälschungen und Massenproteste, kurz: eine Rückkehr der Politik. Putin reagierte auf diese Herausforderung (im Wortsinne) mit repressiven Gesetzen, von denen sich viele in die Privatspähre der Menschen einmischen.
Ich möchte ausdrücklich betonen, dass die hier vorgeschlagene Reihenfolge nicht als strenge Aufeinanderfolge missverstanden werden sollte. Selbstverständlich überlappten und überlappen sich die Entwicklungen. Einmischungen in die Privatsphäre gab es auch schon früher, ebenso wie Zweifel an der Wirtschaftsentwicklung und Proteste. Nur haben sich all diese Dinge, aufeinander einwirkend, in den vergangenen Jahren und besonders im vergangenen Jahr beschleunigt und verstärkt.
Ich will hier in erster Linie auf die neuen Einmischgesetze eingehen (von denen viele inzwischen in Kraft getreten sind, einige zum jederzeitigen Wiedervorholen in der Parlamentswarteschleife hängen und andere wohl nie Gesetz werden). Der Putinsche Staat hat sich mit dem NGO-Agentengesetz, dem Dima-Jakowlew-Gesetz, der Anti-Homosexuellen-Gesetzgebung, dem verschärften Spionagegesetz, dem Verbot von Fluchen in der Öffentlichkeit, dem Lehrfach „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ (oder islamischer, jüdischer, buddhistischer etc.) in den Schulen aus Angst vor dem Machtverlust ideologisiert. Warum machen das Leute, die zuvor immer wieder deutlich gezeigt haben, wie wenig und an wie wenig sie glauben, wie sehr sie den zerfressenden Zynismus der späten Sowjetunion verinnerlicht haben?
Ich habe zwei Erklärungen, von denen eine aus der Russischer-Traum-Studie heraus zu lesen ist, die andere nicht. Durch die Studie zieht sich der Widerspruch vom starken Staat und der individuellen Freiheit. Er geht mitten durch die Individuen in Russland. Die Hoffnung auf Daseinsvorsorge von oben und der Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, wie die Hoffnung auf einen große, ordnende Hand im alltäglichen Chaos und das Wissen um die Gier, die Grausamkeit, die Gleichgültigkeit des eigenen Staates. Seit langem besteht das russische Alltagsleben aus dem Widerspruch, den Staat fürs Überleben zu brauchen (was der Staat auch bewusst so einzurichten versteht) und ihm dabei möglichst nicht zu nahe zu kommen, weil das gefährlich ist (periodisch auch immer mal wieder für Leib und Leben).
Auch daher kommt die Attraktivität des ungeschriebenen Putinschen „Gesellschaftsvertrags“ der 2000er Jahre. Für einen Teil der russischen Gesellschaft (den größeren, ärmeren, ungebildeteren, ehr kleinstädtischen und ländlichen) ist die Daseinsvorsorge wichtiger als die ideologische Enthaltsamkeit des Staates. Dem anderen Teil (dem eher großstädtischen, gut (aus-)gebildeten, reicheren und kleineren) behagt die staatlichen Einmischung weniger. Da es immer weniger geklappt hat, auch Präsident des kleineren Ein-Drittel-Teils zu sein, konzentriert sich Putin seit dem Vorjahr zunehmend auf die größeren Zweidrittel. Der stört sich (bisher) kaum an den Ideologie-Gesetzen, ja heißt sie oft sogar, vor allem, wenn es um andere Lebensentwürfe geht, gut. Umgekehrt glaubt kaum noch jemand des kleineren Teils, dass mit Putin die wirtschaftliche Zukunft zu gewinnen sei. Und dann mischt er sich auch noch – häufig auf moralisch zweifelhafte Weise – in ihre inneren Angelegenheiten ein.
Soweit, so politisch normal. Die zweite Erklärung ist, wie man früher in Russland gesagt hätte (irgendwie ist das mit etwa zeitgleich dem Rausschmiss von Gleb Pawlowskij vor rund fünf Jahren aus der Mode gekommen) polit-technologischer, daher spekulativer und unangenehmer. Hinter all diesen Gesetzen steht keine in irgendeiner Weise geschlossene Ideologie. Ihr wichtigstes Ziel ist das Nebelwerfen. Sie sollen ablenken. Und das gelingt recht gut.
Die Hauptlosung des vorjährigen Protestwinters war die Verdammung der „Gauner und Diebe“ an der Macht. Die Protestierenden verlangten faire Wahlen (in denen der Sieg nicht ergaunert wird) und eine endlich effektive (tatsächliche) Korruptionsbekämpfung. Beide Teile dieser Losung, auch die Forderung nach fairen Wahlen, sind, wie Umfragen immer wieder zeigen, mehrheitsfähig. Sie waren, eine kurze Zeit lang, eine reale Bedrohung von Putins Macht, weil sie auch in einem Teil des Putinlagers unterstützt wurden und werden. Seit Putins Marionettenparlament aber ein absurdes Gesetz nach dem anderen verabschiedet (oder Gerichte, wie beim Piussy-Riot-Prozess, absurde Urteile sprechen), ist der Putin-kritische Teil des Landes vor allem damit beschäftigt, sich darüber aufzuregen oder sich vor den in ihnen meist drastisch angedrohten Strafen zu schützen. Das Nebelwerfen funktioniert bisher recht gut. Kaum noch jemand spricht über die amtlichen „Diebe und Gauner“. Und wer es dennoch tut, dem kommt, wie dem Blogger Alexej Nawalnyj, die Staatsanwaltschaft ins Haus (oder ruft zum Verhör). Auch das ist, solange man noch nicht sitzt, eine Art Beschäftigungstherapie.
Auf diese Weise hat der Kreml das Heft des Handelns längst wieder an sich gerissen und ist vom Reagieren zum Agieren über gegangen. Mit missionarischem Erziehungseifer nimmt Premierminister Medwejew Russen und Russinnen (die Reihenfolge ist politisch korrekt, weil die Russen es nötiger haben als die Russinnen) von der anderen Seite in die Zange, indem er sie im Namen des großmächtigen Vaterlands, der Demographie und des Wirtschaftswachtsums (also völlig rational und nachvollziehbar!) zu einem gesünderem und unfallfreieren Leben zu drängen sucht. Gängige Mittel sind Alkoholverkaufsverbote, Bluttests, Fahr- und Rauchverbote. Bleibt die Frage, ob die damit losgetretene Obskurantismus-Welle mit den Adoptions- und Fluchverboten nicht überzieht. Das kann heute niemand wissen.
Das Verhältnis von Staat und Bürger wird also neu geordnet. Ob das die RussInnen ihrem Traum näher bringt, darf bezweifelt werden.