Gibt es ein Leben unter Putin?

Theodor Adorno behauptete einst, es gebe kein richtiges Leben im Falschen. Das oppositionelle Wochenmagazin „The New Times“ stellt in seiner jüngsten Ausgabe die Frage: „Gibt es ein Leben unter Putin?“ Die Frage hat, ein wenig im Unterschied zur Adornischen, neben der theoretischen auch eine sehr praktische Seite: Viele junge, mobile, gut ausgebildete Menschen denken bei der Aussicht an weitere sechs bis zwölf Jahre Putin daran, das Land zu verlassen. Warum? Was ist passiert? Und was könnte passieren?

Wladimir Putin sprach nach am Wahlabend von einer „offenen und ehrlichen Wahl“. Aber natürlich waren die Wahlen nicht fair. Putin hat kontrolliert, wer kandidieren durfte, wer in den Medien wie und wie lange erscheinen durfte und wie über ihn selbst berichtet wurde. Im Ergebnis zeigten 70 Prozent aller Fernsehbeiträge über die handverlesenen, zur Wahl stehenden Kandidaten Putin und dann meist in einem positiven Licht. Die restlichen 30 Prozent blieben für die anderen vier Kandidaten und über sie wurde hauptsächlich negativ berichtet. Putin kontrollierte auch die Abstimmung selbst, die Auszählung, vor allem aber das Zusammenzählen. Es gab, auch laut OSZE und vielen Tausend unabhängigen russischen WahlbeobachterInnen, flächendeckende Wahlfälschungen.

Schon vor dem Wahltag wurden massiv Sicherheitskräfte in Moskau und St. Petersburg zusammen gezogen. Noch am Wahlabend karrte der Kreml mehrere zehntausend Putinanhänger zu einer Art Krönungsmesse aus dem ganzen Land auf dem Moskauer Manegenplatz an der Kremlmauer zusammen. Warum hat das ein Politiker, der angeblich so überzeugt ist, die Mehrheit des Landes stehe hinter ihm, das überhaupt nötig? Ganz einfach: Der seit drei Monaten aufmuckenden Opposition sollte für das ganze Land sichtbar, aber vor allem in Moskau und St. Petersburg, den Zentren des Protests (wie auch die Wahlergebnisse dort bestätigten) gezeigt werden, wer wirklich Herr im Hause ist. Das war eine Machtdemonstration, wenn auch, ob die Putinsche Träne nun echt oder unecht war, eine leicht hysterische, so wie der ganze Wahlkampf hysterische Züge hatte (wenn man nicht an den etwas kindischen Mythos des kühlen Geheimdienstlers glaubt, der alles im Griff hat, alles voraus berechnet, immer eine Schritt voraus ist). So ganz unrecht hat Putin damit nicht. Seit dem Herbst ist eher er der Getriebene.

Das ist insofern erstmal erstaunlich, weil eigentlich nie wirklich in Frage stand, ob Putin wieder Präsident wird. Es ging immer nur darum, wie viel Betrug und Manipulation dafür nötig sein werden (es war viel, hoffentlich auf längere Sicht zuviel). Für die Opposition geht es jetzt darum, ob der Protest, seine politische Breite, aber auch sein Hineinreichen in bisher unpolitische oder politische zurückhaltende Schichten (junge Leute, KünstlerInnen, JournalistInnen) von Dauer sein wird. Und ob Protest und Politik, lange Jahre so ziemlich das Graueste, was sich die meisten Menschen in Russland vorstellen konnte, weiter so hip bleiben wie in den vergangenen Wochen. Es ist für die Protestbewegung eine große strategische Herausforderung, nun nicht zu viele oder zu wenige Demonstrationen zu organisieren, zu vorsichtig oder zu fordernd zu sein, mit zu konkreten oder zu allgemeinen Forderungen weiter zu machen.

Die äußeren Machtverhältnisse sind bisher gleich geblieben. In der populistisch, ganz auf Putin ausgerichteten russischen politischen Welt regiert dann trotzdem, auf untergründige Weise, doch noch das Volk. Solange die Schar der offen Oppositionellen vernachlässigenswert gering war, hatte der Kreml weitgehend freie Hand. Putin konnte Gesetze fast nach Belieben verabschieden (lassen). Er konnte sie mittels Verwaltung, Polizei und Gerichten durchsetzen. Ja er konnte Gesetze sogar in ihr Gegenteil verkehren, wie es beispielsweise mit dem Demonstrationsrecht jahrelang geschehen ist. Jetzt aber unterstützen in Umfragen rund ein Drittel der Menschen die Protestierenden und in Moskau gehen nicht 1.000 sondern 100.000 Menschen auf die Straße. Das freihändige Regieren wird schwieriger. Die (formale und tatsächliche) Macht hat Putin immer noch, aber das innere Gleichgewicht hat sich verschoben. Deshalb auch die fast archaischen Machtdemonstrationen des Siegers. Der politische Preis für Willkür und Hybris ist seit dem Herbst gestiegen. Das müsste für Putin vielleicht die wichtigste Lehre des vergangenen halben Jahres sein. Zumindest bis zur Präsidentenwahl scheint er sie nicht wirklich begriffen zu haben.

Vor der Wahl schrieb Putin sieben programmatische Artikel. Darin erweckte er den Eindruck als schreibe hier ein oppositioneller Politiker. Doch Putin ist seit zwölf Jahren an der Macht. Drei große Reformankündigungswellen gab es, jeweils im die Präsidentenwahlen herum. Nachhaltige Reformen kamen dabei, abgesehen von einer kurzen Phase während Putins erster Amtszeit, nicht heraus. Im Gegenteil. Das politische System verschloss sich immer mehr, die Korruption wuchs. Gerettet haben Putin vor allem hohe die Steigerungen der Öl-, Gas- und Rohstoffpreise bis 2008. Das (die Steigerungen, nicht die hohen Preise) ist vorbei und wird wohl kaum wieder kommen. Dazu ist das Preisniveau inzwischen zu hoch. Aber innere Ressourcen wie ein bisher für den Markt unerschlossenes Bauernheer wie in China fehlen. Das Land ist alt und altert weiter.

Sergej Karaganow, ein dem Kreml nahe stehender Außenpolitikexperte, schrieb noch vor den Wahlen einen Artikel mit dem Titel „Russland hat wieder Glück“, in dem er argumentierte, Putin und die gegenwärtige politische Führung müssten den Protesten und den Protestierende dankbar sein, weil sie sie zu den Reformen drängen, von denen sie selbst schon lange wüssten, dass sie unausweichlich sind, zu denen sie sich aber nicht entschließen könnten. Da ist was Wahres dran. Bisher sind alle Versuche, die Wirtschaft ohne politische Reformen zu modernisieren, gescheitert. Doch warum sollte Putin nun gerade jetzt auch politische Reformen umsetzen. Sein Dilemma ist doch, dass er genau die Menschen braucht, um Russlands Wirtschaft stark und konkurrenzfähig zu machen, die jetzt gegen ihn auf die Straße gehen: die Jungen, die Mobilen, die gut Ausgebildeten, diejenigen, die etwas tun wollen. Die wollen inzwischen aber auch ihn nicht mehr. Wahrscheinlicher als Karaganows Traum ist daher, dass Putin den Zeitpunkt verpasst hat, an dem er diese Leute mit ins Boot bekommen hätte. Oder besser: Er hat sie aus dem Boot getrieben, eben weil er keine politischen Reformen will. Wahrscheinlicher ist daher auch künftig eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Von Angeboten zur Zusammenarbeit, aber Verweigerung wirklicher Beteiligung. Eine Weile kann das noch gut gehen, auf die Dauer aber wohl nicht.

Ein ähnliches Dilemma besteht übrigens seit langem in der Außenpolitik. Putins Grundimpuls ist antiwestlich. Gleichzeitig ist es aber der Westen, dessen Geld, dessen Know How und dessen Investitionen für die Modernisierung Russlands gebraucht werden. Ohne Modernisierung bleiben ja auch alle Großmachtträume unerfüllt. Wahrscheinlich wird auch hier Putins Russland stachelig bleiben. So wie beim Iran. So wie bei Nordkorea. Und wenn es mal einen mutigen Schritt gibt, wie bei der Enthaltung zur UN-Sicherheitsratsresolution zu Libyen, dann folgt der umgekehrte Pendelschlag gewiss. Das Ergebnis ist die Tragödie um Syrien. So wird sich Putins Russland wohl auch weiter nicht entscheiden können, ob es nun Freund oder Feind des Westens sein will. Oder lieber Chinas. Im Sterben ist man dann ganz allein.

Gibt es also ein Leben unter Putin? Aber selbstverständlich. Nur schön ist es nicht.