Die seit einiger
Zeit zunehmend gespaltene russische elektronische Öffentlichkeit ist in diesem
Blog zuletzt am Beispiel der, wenn sie nicht von einem Regierungsmitglied
gekommen wären, durchaus „putinkritisch“ zu nennenden Äußerungen von
Finanzminister Alexej Kudrin deutlich geworden. Der Unterschied liegt aber
nicht nur darin, was im Fernsehen gesagt und gezeigt wird (und gesagt und gezeigt
werden darf) und was allein dem Internet vorbehalten bleibt.
Fernsehen und
Internet sind zwei grundsätzlich unterschiedliche Formen von Öffentlichkeit. Das
mag jetzt banal klingen (ist es vielleicht sogar), kann aber im wirklichen
Leben den entscheidenden Unterscheid ausmachen. Das gilt vor allem, weil der
Einfluss der Internet-Öffentlichkeit (zumindest in Russland) immer noch weit
hinter dem Einfluss der Fernseh-Öffentlichkeit zurück bleibt. Aber zum einen
wird der Abstand kleiner, je länger desto schneller. Und zum anderen folgen
politische Ereignisse und Umbrüche ja meist nicht kontinuierlichen, den
Akteuren sichtbaren und nachvollziehbaren Entwicklungen, sondern schlagen an
sogenannten Tipping-Points oft unerwartet um.
Es ist der Funke
solcher Umschlagssituationen, aus dem das Internet als Brandbeschleuniger ein
Inferno machen kann, in dem die alte politische Ordnung untergeht. Das etwa ist
es, was gegenwärtig in den arabischen Ländern vor sich geht: Kaum jemand sah
den Funken in Tunesien, Ägypten oder Libyen kommen. Als er da war, half das Internet,
halfen Facebook, Twitter und Mobiltelefone ihn zu einem Flächenbrand zu machen.
Genau das aber
macht denjenigen Angst, die einen großen Teil ihrer Macht auf die zwar immer
noch dominante, aber ganz offenbar nicht mehr alles andere überragende Fernseh-Öffentlichkeit
stützen. Und das sind, wie auch Kirill Rogow in seiner Kolumne „Die Freiheit
der Facebooks, iPhones und ipads!“ in der Nowaja Gaseta von heute schreibt, fast
alle „weicheren“ Autoritarismen.
Sie unterscheiden
sich von den Diktaturen und Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, das sich ihre
herrschenden Eliten nicht mehr ausschließlich auf einen polizeilichen,
geheimdienstlichen und militärischen Unterdrückungsapparat stützen, sondern auf
eine Art neuen Gesellschaftsvertrag mit „dem Volk“. Ihr, sagt dieser Vertrag,
seid freie Konsumenten, freie Reisende, in Maßen sogar frei Sprechende, wenn
ihr Euch nicht in die Politik einmischt und die herrschende Besitzordnung
akzeptiert. In Russland funktionierte das unter Putin (und nun auch Medwedjew)
bisher ganz gut – durchaus zum beiderseitigen Gefallen.
Doch nun herrscht
Nervosität. Die Wirtschaftskrise hat die Grenzen des Verteilungswachstums ins
Bewusstsein gerückt. Die politischen Eliten werden immer entrückter und immer
korrupter. Der Staat funktioniert immer schlechter. Es revoluzzert in Arabien.
Und in Russland geht die Angst um. Das arabische Szenarium komme hier nicht
durch, tönt Präsident Medwedjew, ohne zu sagen worin der Kern dieses „Szenariums“
liegt. Der stellvertretende Ministerpräsident Setschin, einer der Mächtigsten
von denen in Russland, die nicht ständig im Scheinwerferlicht stehen, wurde
konkreter: Google sei Schuld, sprich: das Internet.
Und so ganz
falsch ist das Setschinsche Unbehagen nicht. Das Internet ist ein Problem,
nicht nur, weil es zu einer modernen Gesellschaft und, noch wichtiger, zu einer
modernen Wirtschaft gehört. Das Internet ist ein Problem, weil es ein wichtiger
Teil im sozialen Leben vieler Menschen geworden ist, und zwar, ich berufe mich
noch einmal auf Kirill Rogow, ein (erst einmal) unpolitischer.
Wer im
russischsprachigen (und für andere Sprachen gilt das auch) Internet surft, und
das gilt in erster Linie für die sozialen Netzwerke, findet erstaunlich wenig
Politik. Die gibt es auch, aber das sind eher Reservate einer dorthin
verbannten politischen Opposition, einer Gegenöffentlichkeit, der der Zugang
zum wirklichen Leben, zum Fernsehen, versagt ist. Der durchschnittliche
Internetsurfer ebenso wie die durchschnittliche Surferin sind in erster Lini
Verbraucher. Sie suchen, neben Kontakten, Informationen darüber, was man liest,
wohin man geht, welchen Film, welches Theaterstück, welches Fußballspiel man
sich anschaut. Es werden Rezepte getauscht, Autos gekauft und verkauft,
medizinischer Ratschläge geholt. Das Internet ist Teil der versprochenen und
gewollten Freiheit.
Nun könnte sich
der autoritäre Potentat zurück lehnen, denn das ist alles keine Politik, also
ungefährlich. Er hat aber ein Problem. Während der Staat im Fernsehen steuern
kann, dass niemand diese Grenze überschreitet, weil er die Sender kontrolliert,
geht das im Internet nicht. Die Grenze zwischen Sendern und Empfängern ist
weitgehend aufgehoben. Und so mischt sich immer wieder, ganz privat, auch
Politik ins VerbraucherInnendasein. Im Chat auf Facebook, im Blog über den
Besuch auf dem Passamt oder, wie jüngst an einem der unerträglichen Stauabende
auf den überfüllten Moskauer Straßen, der Zorn über die beamteten
Blaulichtfahrer per Smartphones auf yandex.ru, dem meistbesuchten Internetportal
im RuNet.
Ich wiederhole:
Noch ist es lange nicht so weit. Das fernsehen ist immer noch viel wichtiger
und einflussreicher für das, was passiert und gedacht wird in Russland. Aber
der Einfluss des Internet wächst. Und wer hätte vor zwei Monaten Prognosen über
bevorstehende Facebook-Revolutionen in der arabischen Welt geglaubt?