Russische Wirtschaftswunder und Modernisierung

Der phoenixhafte russische Aufstieg aus der tiefen
Krisenasche nach dem (Fast-)Staatsbankrott 1998 wird oft mit dem sogenannten „deutschen
Wirtschaftwunder“ nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen. Doch dieser Vergleich
trügt. Im Gegensatz zum Wiederaufbau in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg
haben die russische Wirtschaft im vergangenen Jahrzehnt tatsächlich zwei Wunder
nach vorne getrieben (und Putin, wenn nicht gerettet, so doch erheblich
geholfen).

 

Den wirtschaftlichen russischen Wiederaufstieg nach dem
tiefen Fall der 1990er Jahre bis zur Finanzkrise 2008 kann man, so habe ich aus
der Lektüre zahlreicher Untersuchungen, einer Reihe von Vorträgen und einigen
Gesprächen mit Wirtschaftswissenschaftlern gelernt, grob in drei Phasen oder
drei Wachstumsschübe einteilen.

 

Den ersten Schub gab noch eine Katastrophe und kein Wunder, die
Abwertung um rund das Dreifache des Rubels als Folge des Defaults im August
1998 gegenüber fast allen führenden Währungen (damals noch der D-Mark, dem
US-Dollar, dem Yen, dem Schweizer Franken und dem britischen Pfund). Damit tat
Russland unfreiwillig, was heute Griechenland und Irland gerne tun würden, aber
als Mitglieder der Eurozone nicht können. Die Wettbewerbsfähigkeit russischer
Waren auf ausländischen Märkten stieg enorm, durchaus auch trotz ihrer oft
zweifelhaften Qualität. Zugleich spielte das die Qualitätsfrage für die
Hauptexportgüter Gas, Öl und andere Rohstoffe keine Rolle. Für sie bekam das
Land genauso viele Dollar wie zuvor, die nun aber dreimal mehr Rubel ergaben.
Mit den vielen neuen Rubeln konnte viel im Land, aber weniger im Ausland
gekauft werden. Die Abwertung wirkte wie ein gigantisches Konjunkturprogramm. Erst
2002 begann dessen Wirkung nachzulassen.

 

Doch just um diese Zeit geschah das erste Wunder: Während in
der russischen Regierung noch zwei Schulen um den richtigen Weg stritten, wie
nun weiter zu verfahren sei, beganngen die Ölpreise in wahnsinnigem Tempo zu
steigen, zwischen 50 und 70 Prozent pro Jahr. Diese Steigerungen gaben der russischen
Wirtschaft einen neuen Schub. Es dauerte wiederum drei-vier Jahre, ehe die
Steigerungsraten merklich langsamer wurden. Zwar stieg der Ölpreis weiter, aber
während eine Steigerung von 20 auf 30 Dollar pro Barrel ein Anstieg um 50
Prozent ist, bringt die Steigerung von 70 auf 80 nur noch ein Plus von 14
Prozent. Der Schwung ließ spätestens 2005 erneut nach.

 

Aber nun geschah Wunder Nummer zwei. Plötzlich begannen
ausländischen Investitionen nach Russland zu fließen. Das war nicht alles ganz
unproblematisch. Ein großer Teil dieser „ausländischen Investitionen“ stammte
aus Russen gehörenden Vermögen aus Zypern (lange Jahre führendes Herkunftsland
in der Liste der größten Investoren), verschiedenen Karibikinseln oder sonstigen
Steueroasen. Das war also gar kein „ausländisches Geld“, sondern in früherer
Zeit (meist illegal) außer Landes gebracht worden. Nun aber kam es wieder
zurück. Reales Geld.

 

Ein anderer großer Teil des nach Russland strömenden
Kapitals waren Kredite. Während der Staat in den Zeiten der Hausse (fast) alle
seine Schulden (inclusive derer aus Sowjetzeiten) zurück bezahlte,
verschuldeten sich viele russische Konzerne (darunter auch viele in
Staatsbesitz) stark. Der schwache russische Kapitalmarkt wäre gar nicht in der
Lage gewesen, den Finanzierungsbedarf zu decken.

 

Zum Dritten kam viel spekulatives Kapital ins Land. Doch das
wurde zumindest uns Laien erst klar, als es sich in der Krise mit noch größerer
Geschwindigkeit wieder zurück zog. Wie dem aber sei, Geld kam in großen Mengen
und hielt das Wirtschaftswachstum auf hohem Niveau, insgesamt von 2000 bis 2008
im Schnitt rund 8 Prozent pro Jahr. Noch schneller aber als die Wirtschaft
wuchsen die Löhne, die Renten und die Soldatensolde. Auch blieb die Inflation
hoch, trotz gewisser Erfolge nach 2005 sie zu dämpfen.

 

Doch nun kam die Krise, erst noch ignoriert von der
politischen Führung, die noch im Herbst 2008 erklärte, Russland werde von ihr
kaum berührt und werde stärker als die westlichen Industrieländer aus ihr
hervorgehen. Doch das war schnell vorbei. Danach reagiert die russische
Regierung ähnlich und nicht schlechter als zum Beispiel die deutsche oder die
US-amerikanische. Auch sie steigerte die Ausgaben antizyklisch. Allerdings
floss ein großer Teil der zusätzlichen Gelder in noch stärker als zu Boomzeiten
erhöhte Renten, Löhne und Soldatensolde. Ihr zumindest Hintersinn war auch die
Vermeidung möglicher sozialer Unruhen. Das gelang auch recht gut.

 

Nun ist es aber, wie jeder Politiker und jede ihre Wiederwahl
anstrebende Politikerin wissen, mit Renten so ein Ding. Sie sind leicht zu
erhöhen, aber es ist um den Preis des Machterhalts so gut wie unmöglich, sie je
wieder zu senken. Das gilt auch, vielleicht sogar noch mehr, für populistische
Regime wie das gegenwärtige in Russland. Auch wird mit Rentenerhöhungen nicht
nur heute Geld ausgegeben, sondern zukünftiges Geld gebunden. Das wissen
natürlich auch die Verantwortlichen in der russischen Staatsführung und von den
eigenen Wirtschaftsfachleuten gewarnt wurden sie auch. Ruhe im Staat war aber
ganz offensichtlich wichtiger.

 

Die Krise ist so gut wie vorbei, auch der Ölpreis liegt mit
knapp 100 Dollar pro Barrel schon wieder beim Zweieinhalbfachen seines
niedrigsten Werts im tiefen Krisental. Auch wuchs die Wirtschaft 2010 bereits
wieder um rund 4 Prozent nach harten 8 Prozent Verlust 2009. Alles gut, könnte
man meinen. Doch weit gefehlt. Schon um heute einen ausgeglichenen
Staatshaushalt zu haben, müsste er bei 109 Dollar. Zudem stieg die Inflation
2010 wider auf fast 10 Prozent an und wird auch 2011 kaum darunter liegen.
Zudem sieht es mit den Wachstumsmotoren der vorhergehenden Boomperiode schlecht
aus.

 

Zwar wertete der Rubel auch auf der Höhe der Finanzkrise,
zum Jahreswechsel 2008/2009 um rund ein Drittel ab (nun gegenüber Euro, Dollar
und Yen), aber die Hälfte dieses Kursverlustes hat er inzwischen wieder wett
gemacht. Große Sprünge in die eine oder andere Richtung sind kaum zu erwarten.

 

Mit den ausländischen Investitionen sieht es auch nicht gut
aus. Die Börsenkurse der großen russischen Unternehmen zeigen zwar nach oben, haben
aber noch lange nicht Vorkrisenhöhen erreicht. Auch drücken viele von ihnen
noch die Kredite aus früheren Jahren. Das politische Investitionsklima ist mit
dem harten Urteil gegen Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew nicht gerade
besser geworden. Vor ein paar Tagen wurde gar der für Wirtschaft zuständige
Präsidentenberater Arkady Dworkowitsch in russischen Medien zitiert, das
Chodorkowskij-Urteil habe bereits deutlich sichtbar negative Auswirkungen auf
ausländische Investitionen in Russland. Allerdings ruderte Dworkowitsch schon am
nächsten Tag heftig zurück. Seine Aussagen seien verfälscht und verkürzt wieder
gegeben worden.

 

Wie auch immer, neue Wunder sind nicht in Sicht und auf äußere
Hilfe kann die russische Wirtschaft in den kommenden Jahren nur bedingt hoffen.
Bleiben die inneren Ressourcen. Damit ist es aber so ein Ding. Geld, das
investiert wird, muss irgendwo anders weggenommen werden. Insgesamt wird der
Kuchen, zumindest in der ersten Zeit, nicht größer. Doch die Antikrisenmaßnahmen
haben viel Geld auch für die kommenden Jahre gebunden. Hinzu kommen noch ehrgeizige
Programm wie die angekündigten umgerechnet rund 500 Milliarden Euro für
Rüstungsprojekte bis 2020, Prestigeprojekte wie die Olympischen Winterspiele
2014 oder die Fußballweltmeisterschaft 2018. Auch wirtschaftlich keine guten
Aussichten für eine durchgreifende Modernisierung der russischen Wirtschaft,
von deren Notwendigkeit insbesondere Präsident Medwedjew immer wieder spricht
(und hier geht es nur um den rein wirtschaftlichen Teil; über die politische
Voraussetzungen einer Modernisierung, eine Öffnung des politischen Systems in
damit noch nichts gesagt).

 

Die Wahl, vor die Putin und Medwedjew sich gestellt sehen,
könnte deshalb leicht die zwischen politischer Stabilität und wirtschaftlicher
Modernisierung sein. Wie lange sich diese Stabilität aber ohne wirtschaftliches
Wachstum aufrecht erhalten lässt, ist kaum vorher zu sagen. Die Prognosen
seriöser ExpertInnen, wie lange so ein Durchwursteln und langsame Siechtum
dauern kann, bis den Menschen (oder einem Teil der Elite) der Kragen platzt,
gehen weit auseinander. Sie reichen von nur ein oder zwei Jahren bis zumindest
zum Ende der nächsten Präsidentschaft 2018. Als größter Stabilisierungsfaktor wird
in diesen Analysen meist die völlige Abwesenheit von auch nur annähernd ernsthaften
poltiischen Konkurrenten für das Tandem Putin-Medwedjew genannt. Größter
Unsicherheitsfaktor ist (fast) immer die angenommene Leidensfähigkeit der Menschen
in Russland.


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