Das erste Ziel, das sich der neue Präsident Wladimir Putin im Jahr 2000 öffentlich stellte, war die „Wiederherstellung der Machtvertikale“. Man hätte das auch weniger martialisch ausdrücken und schlichter davon sprechen können, die Funktionsfähigkeit des russischen Staates wiederherzustellen. Sie hatte in den 1990er Jahren unter Präsident Jelzin aufgrund der tiefen Wirtschaftskrise und des fundamentalen Umbaus des neuen, nun nicht mehr sowjetischen Staates in vielen Bereichen erheblich gelitten. Doch darf man angesichts der beruflichen Vorgeschichte des neuen Präsidenten wohl auch annehmen, dass die Betonung auf zentralisiert ausgeübte staatliche Macht nicht nur mitgemeint war. Die Botschaft war also nicht nur auf die Funktionalität des Staates gerichtet, sie ließ auch durchblicken, dass man Widerstand mit harten Maßnahmen brechen werde.
Die Richtigkeit, ja die Notwendigkeit eines solch machtzentrierten Zugangs wurde damals nicht nur in Russland, sondern auch im Westen von vielen Beobachtern und Akteuren anerkannt. Ein Staat, der seine Aufgaben in der Daseinsvorsorge kaum mehr wahrzunehmen in der Lage war, der seine Regionen nicht zusammenhalten konnte – der Tschetschenienkrieg war nur ein Beispiel – bedurfte nach allgemeiner Meinung einer harten Hand, um das Land (ein Ausdruck, der so konkret erst viel später aufkam) von den Knien wieder aufzurichten.
Wie wir heute wissen, war Wladimir Putin mit diesem Vorhaben durchaus erfolgreich (ohne an dieser Stelle näher darauf eingehen zu können, was diesen Erfolgen zugrunde lag: gute Politik oder wirtschaftliches Glück). Mehr noch, diese Erfolge dauern im Großen und Ganzen an. Die Machtvertikale wird, fast eine Tautologie, seit nun über 17 Jahren Stück für Stück immer vertikaler. Immer mehr Macht und Entscheidungsbefugnisse werden im Kreml und bei Präsident Putin persönlich gebündelt. Aus der Perspektive der Machterhaltung und dessen, was in Russland die Integrität (russisch: „zelostnost“) des Staates genannt wird, sieht es danach aus, als ob alles in Ordnung ist, könnte man meinen.
Doch trotz der immer weiter wachsenden Machtfülle Wladimir Putins produzieren die im von ihm mit der Zeit geschaffenen (und immer weiter entwickelten) politischen System getroffenen Entscheidungen ständig große Probleme. Was steckt dahinter? Eine populäre Erklärung für die inneren Widersprüche des Systems sind unterschiedliche Machtgruppen in der Umgebung von Putin, deren Auseinandersetzungen um Macht und wirtschaftliche Ressourcen (beide sind im System Putin direkt und unauflösbar miteinander verbunden) zu diesen Formen von Systemausfall führen. Da ist wahrscheinlich „etwas dran“. Aber die Regelmäßigkeit, mit der die Probleme auftauchen deuten zumindest auf weitere, vielleicht grundlegendere Probleme hin.
Der St. Petersburger Politologe Dmitrij Trawin hat vier Hauptwidersprüche im System Putin ausgemacht:
- der föderale Aufbau trifft auf ein System feudal anmutender Klientelbeziehungen;
- die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, konkurriert mit der Gewohnheit und dem Wunsch, über die Sicherheitsdienste eine möglichst große Kontrolle auszuüben;
- einer gut ausgebildeten Schicht von Beamten und Experten stehen ideologisch motivierte Überzeugungstäter gegenüber;
- die Notwendigkeit von Rotation und regelmäßiger Erneuerung trifft auf eine wachsende Schicht von Prätorianern, die sich als die eigentlichen Beschützer des obersten Herrn fühlen.
Ich möchte, auch aus Platzgründen, hier an jeweils einem Beispiel nur die ersten beiden Widersprüche deutlicher machen.
Putin hat seinen Aufstieg mit einer sehr spezifischen Lösung des Tschetschenienkriegs begonnen, indem er dort einen kleinen, feudalen Separatstaat geschaffen hat, dessen Herrscher ihm persönlich seine Loyalität versichert. Zur Kontrolle der Regionen wurden als nächstes Föderalbezirke geschaffen, die die Regionen der mehr oder weniger direkten Kontrolle des Moskauer Zentrums unterwarfen. Die schreckliche Geiselnahme in einer Schule im nordossetischen Beslan Anfang September 2004 bot dann den Anlass, die Direktwahl der Gouverneure abzuschaffen und sie künftig von Moskau aus zu ernennen. Um die regionalen Oligarchien in den Griff zu bekommen, begann der Kreml vor einigen Jahren, jüngere, in der Regel regionsfremde Gouverneure zu ernennen. Viele regionale Ministerien unterstehen nicht mehr der Regionalregierung, sondern dem jeweiligen Ministerium in Moskau. Beamte rotieren zunehmend horizontal zwischen den Regionen, um dass Entstehen von regionalen Seilschaften zu verhindern.
Im Großen und Ganze hat Putin damit das Problem der Kontrolle über die Regionen gelöst. Von tschetschenischer (oder sonstiger) Unabhängigkeit gar wagt schon seit langem niemand mehr zu sprechen. Doch gerade Tschetschenien zeigt, wie dieses Problem damit nur verschoben, aber nicht aufgehoben ist. Der tschetschenische Führer (Präsidenten dürfen sich die Republikchefs schon seit gut zehn Jahren nicht mehr nennen) Ramsan Kadyrow, hat die kleine Kaukasusrepublik zwar mit Putins Billigung und Anleitung brutal und blutig von Rebellen und Terroristen „gesäubert“. Auch betont er ständig seine besondere Loyalität zu Wladimir Putin (übrigens immer zu Putin persönlich, nicht zum russischen Staat). Er hat sich aber gleichzeitig auch unersetzbar gemacht. Ohne Kadyrow ist der angebliche Friede in Tschetschenien (der eher einer Friedhofsruhe gleicht) kaum eine Kopeke wert ist.
Anders ausgedrückt: Nicht der Kreml (Putin) ist absoluter Herrscher über seine Untertanen in Tschetschenien, sondern Kadyrow. Putin hat ihn gewissermaßen mit der Republik belehnt. Damit hat er aber weitgehend die Kontrolle über das, was in Tschetschenien vorgeht, abgegeben. Russische Sicherheitskräfte (des Innenministeriums wie des Geheimdienstes) dürfen praktisch nur mit Kadyrows Genehmigung nach Tschetschenien. Russische Gesetze gelten dort nur insofern, als Kadyrow das zulässt. Wichtiger noch: Zwar ist Kadyrow gegenwärtig ein Vasall Putins, aber gerade das schließt den plötzlichen Abfall nicht aus, sondern macht ihn geradezu unvermeidbar, sollten sich die Verhältnisse ändern und sollte Putin (das Moskauer Zentrum) schwächeln und/oder nicht mehr zahlen können oder wollen.
Nun ist Tschetschenien ein selbst für russische Verhältnisse sehr eigener Sonderfall. Aber Kadyrow hat allen anderen Regionalführern gezeigt, dass der Kreml die Sprache der Gewalt gut versteht und gewillt ist, für den Verzicht darauf zu zahlen. Je mehr Gewalt, umso höher der Preis. Beim ersten Anzeichen von Schwäche des Zentrums dürfte der Ausnahmefall Tschetschenien schnell Schule machen. Zuerst vielleicht im Nordkaukasus, dann aber auch in anderen Regionen.
Den zweiten Widerspruch, den ich hier behandeln möchte, nennt Dmitrij Trawin „Grüne Lappen gegen grüne Männchen“. Es geht vordergründig um Wirtschaft, tatsächlich aber um den oligarchischen Staatsaufbau. Nach der Verhaftung und Verurteilung von JuKOS-Chef Michail Chodorkowskij 2003 hat sich die Führungsschicht der russischen Wirtschaft stark verändert. Anstelle der sogenannten Oligarchen, die unter Präsident Jelzin in den 1990er Jahren durch die Privatisierung großer Teile der Industrie und vor allem des Rohstoffsektors erst reich und in der Folge der Präsidentenwahlen 1996 politisch einflussreich geworden waren, traten nun sukzessive andere Personen. Meist waren das Leute aus den Geheimdiensten (also Putins ehemalige Kollegen) oder aus St. Petersburg (also Putins alte Freunde). Auf diese neue Generation Superreicher in Russland trifft, wie mir scheint, der Begriff Oligarchen viel eher zu als auf ihre Vorgänger. Während die Oligarchen der 1990er erst wirtschaftliche Macht erlangten, die sie dann politisch nutzten (u.a., aber nicht nur, um reich zu bleiben), ist es mit ihnen eher umgekehrt. Sie nutzen politische Macht um reich zu werden und nutzen den Reichtum, um an der Macht zu bleiben.
Allerdings fand keine vollständige Verdrängung der alten durch die neuen Oligarchen statt. Nur einer der alten Oligarchen landete im Gefängnis. Ein paar weitere flüchteten sich (oder nicht selten: es wurde ihnen gestattet zu flüchten) ins Exil im Ausland. Die meisten fügten sich einfach der Putinschen Forderung, sich künftig von jeder Politik fern zu halten und, wo nötig und vom Kreml gefordert, dem Staat mit Geld unter die Arme zu greifen.
Viele der (inzwischen längst nicht mehr so) neuen Oligarchen stammen aus den verschiedenen Sicherheitsapparaten. Ihre Kompetenz liegt vor allem darin, zu wissen, was man tun muss, um sich große Vermögen anzueignen und größere Volksmengen unter Kontrolle zu halten. Geld zu verdienen, liegt ihnen eher fern. Das war solange kein sonderliches Problem, so lange das Geld aus den Öl- und Gaseinnahmen nur so ins Land flutete. Bis zum Ende der 2000er Jahre gab es dank der Ölpreishausse und einer beispiellos langen Phase weltwirtschaftlicher Hochkonjunktur genug Geld zu verteilen, ohne es vorher erarbeiten zu müssen. Diese Zeiten sind seit der Finanzkrise 2008/2009 vorbei und werden, wie es aussieht, (insbesondere für Russland) auch so schnell nicht wieder kommen.
Das in den 2000er Jahren entstandene System von politischen und wirtschaftlichen Loyalitäten, das strukturell jeden Ausweg aus der Rohstoffabhängigkeit verbaut, scheint nicht aus eigener Kraft zur Modernisierung fähig. Jedenfalls schlug bisher noch jeder Versuch fehl. Ein wenig mag das daran liegen, dass das System lange wie eine besondere russische Art von perpetuum mobile wirkte. Putin bat die Oligarchen, in seine großen Projekte wie Olympiade, dem Summit der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft oder Fußballweltmeisterschaft zu investieren. Die Oligarchen taten, wie ihnen geheißen, machten oft Verluste, verdienten aber kurze Zeit später wundersam mehr als sie verloren hatten, weil sie bei großen staatlichen Ausschreibungen zum Zuge kamen. Dieses System erweist sich nun in der Wirtschaftskrise und bei näherem Hinschauen als ganz normaler Motor, der Treibstoff von außen zum Funktionieren braucht. Doch der Treibstoff von außen ist inzwischen knapp und ein Ende der Knappheit nicht in Sicht.
Um neuen Treibstoff zu generieren, müsste die Wirtschaft modernisiert werden, das aber würde, so die Meinung der allermeisten Wirtschaftsexperten in Russland, nur gehen, wenn auch die staatlichen und politischen Institutionen modernisiert würden, so dass künftig die Einhaltung von für alle möglichst gleichen Regeln sichergestellt, vor allem aber Eigentum in Russland tatsächlich rechtlich geschützt würde. Genau das aber, eine Modernisierung der Institutionen, hielt in einer Umfrage von mehr als 150 führenden russischen Wirtschaftswissenschaftlern im vorigen Jahr eine große Mehrheit der Befragten zwar für das wünschenswerteste, aber gleichzeitig auch für das unwahrscheinlichste Szenarium für die kommenden Jahre.
Hinzu kommt ein weiteres Problem. Sowohl die alten als auch die neuen Oligarchen (und viele weniger Vermögende, aber immer noch sehr Reiche mit ihnen) verdienen ihr Geld zwar gerne in Russland, geben es aber doch lieber im Westen aus (für Villen, für die Bildung ihrer Kinder, zur Absicherung für später, für alle Fälle oder einfach nur für ein schönes Leben). Doch da ist die Krim dazwischen gekommen.
Auch die Krim war (wie viele andere Schritte zuvor, die die Kontrolle des Kreml über Land und Gesellschaft verschärft haben) notwendig, um an der Macht zu bleiben. Doch sie brachte Nebenwirkungen. Zum einen die Sanktionen (die viele der neuen Oligarchen mit Reisebeschränkungen auch persönlich treffen). Zum andere schreckte es, nach einer anfänglichen Euphorie, viele derjenigen in Russland ab, die wissen, wie mit Arbeit Geld zu verdienen ist. Diese Leute mögen keine Konfrontation (mit dem Westen). Sie mögen Zusammenarbeit. Konfrontation stört sie (beim Geld verdienen und beim guten Leben). Konfrontation verunsichert. Gleichzeitig werden aber diese Leute gebraucht, weil sie das Geld machen können, das wiederum zum Machterhalt nötig ist (und auch, um die Konfrontation mit dem Westen durchhalten zu können).
Soweit das zu beurteilen ist, herrscht in diesen Kreisen große Unzufriedenheit mit Putin, aber auch große Angst vor ihm. Solange das so bleibt, ist das keine Gefahr für das System. Aber eben das Wort „solange“ deutet auf den tieferen Grund hinter den strukturellen, also immer wiederkehrenden Problemen. Die Gefahr scheint mir in der Methode zu liegen, mit der Putin die Handlungsfähigkeit des russischen Staates in der ersten Hälfte der 2000er Jahre wiederhergestellt hat. Er hat, wie viele anderen Menschen in Russland auch, aus den 1990er Jahren den Schluss gezogen, dass rechtsstaatliche Institutionen nur Potjomkinsche Dörfer sind, hinter denen sich das Eigentliche verbirgt: reine Macht und nackte Gewalt.
Als Folge sind die schwachen Institutionen, die in den 1990er Jahren zugegebenermaßen mehr schlecht als recht funktioniert haben, Stück für Stück immer weiter ausgehöhlt worden. Staatlichem Handelns liegen unter Putin letztlich immer zwei Ziele zugrunde: der Machterhalt und die (privat und politisch motivierte) Bereicherung. Mehr noch. Im putinschen System sind diese beiden handlungsleitenden Motive (siehe „Grüne Lappen gegen grüne Männchen“) eine Symbiose eingegangen. Das erklärt, warum die Machthaber in Russland nicht selten Entscheidungen treffen, denen man sofort ansieht, wie viele Folgeprobleme (für das Land und seine Menschen ebenso wie für die Machthaber) sie nach sich ziehen werden.
Bisher ist es Putin allerdings immer wieder gelungen diese negativen Folgen entweder in die Zukunft zu verlegen (etwa so, wie das Rentensystem in Deutschland auf Kosten künftiger Generationen am Leben gehalten wird) oder sie mit lautstarken Aktionen zu überdecken (in diese Kategorie gehören, was die Innenpolitik angeht, die Annexion der Krim, der Krieg in Ostukraine und auch das militärische Eingreifen in Syrien). Die wachsende Geldknappheit macht allerdings alles schwieriger. Zudem hat die Konfrontation mit dem Westen ein Niveau erreicht, das nur noch mäßig steigerbar scheint, wenn man den Bogen nicht überspannen will. Genau das war aber bisher Putins Methode. Wenn er nicht weiterkam, hat er den Einsatz erhöht.