Der Ständige Schiedsgerichtshof in Den Haag hat in einem heute veröffentlichten Urteil Ex-Aktionären des 2004 zerschlagenen russischen Ölkonzerns Jukos gut 50 Milliarden Dollar Schadenersatz vom russischen Staat zu gesprochen. Die ehemaligen Aktionäre hatten von der Regierung Entschädigung gefordert, weil sie nach eigenen Angaben durch die Auflösung des einst von dem Regierungskritiker Michail Chodorkowski kontrollierten Konzerns viel Geld verloren haben. Chodorkowskij selbst begrüßte das Urteil, betonte aber, er sei nicht unter den Klägern und habe auch nicht vor, irgendwelche materiellen Vorteile aus dem Urteil zu ziehen. In einem Interview mit dem Zürcher Tages-Anzeiger versuche ich die Folgen des Urteilsspruchs zu analysieren.
Tages-Anzeiger: Herr Siegert, Russland soll im Fall Jukos hohen Schadenersatz leisten. Was bedeutet dieses Urteil für den Kreml?
Jens Siegert: Die Politik wird dies als weiteres Alarmsignal aufnehmen. Der Kreml steht durch die Sanktionen der USA und der EU bereits unter Druck. Zusätzliche Kosten über 50 Milliarden Dollar wären ein harter Schlag.
Tages-Anzeiger: Welche Konsequenzen hat der Schuldspruch?
Jens Siegert: Der Kreml wird das Urteil zunächst weiterziehen und versuchen, seinen Kopf auf juristischem Weg aus der Schlinge zu ziehen. Sollte das Urteil international rechtskräftig werden, so wäre dies für Russland ein ziemliches Problem. Letztlich könnte russisches Staatseigentum im Ausland gepfändet werden, falls Russland die Zahlung verweigert.
Tages-Anzeiger: Welchen Status misst Russland dem Schiedsgericht in Den Haag bei?
Jens Siegert: Das Verhältnis ist ambivalent. Man anerkennt das Gericht, so lange es zu Gunsten des Kreml entscheidet. Allerdings dürfte Russland nie im Sinn gehabt haben, sich bei einer Niederlage wirklich dem Urteil zu unterwerfen. Die Zustimmung zu diesem Verfahren war wohl vor allem eine Frage des Zeitgewinns.
Tages-Anzeiger: Kommunikativ ist das eine riskante Strategie.
Jens Siegert: Die Strategie ist allgegenwärtig. Ereignisse werden je nach Bedarf gedeutet. Ein Beispiel ist der Flug MH17: Der Kreml sieht im Abschuss ein Verbrechen, solange sich die Behauptung aufrecht erhalten lässt, dass die Ukraine dafür verantwortlich ist. Stellt sich heraus, dass die russischen Freischärler den Flieger vom Himmel geholt haben, so wird der Zwischenfall umgedeutet und als Versehen taxiert.
Tages-Anzeiger: Funktioniert dies auch im Fall von Jukos?
Jens Siegert: Der Kreml dürfte den Schiedsgerichtshof in Den Haag öffentlich als Instrument des Westens brandmarken. Man wird auf die eigene Souveränität hinweisen und die Legitimität des Schiedsgerichtshofs infrage stellen – egal, ob man dem Gericht vor ein paar Jahren die Anerkennung ausgesprochen hat.
Tages-Anzeiger: Wird Russland die 50 Milliarden Dollar zahlen?
Jens Siegert: Bereits vor Ausbruch des Ukrainekonflikts ist Russland in eine Wirtschaftskrise geschlittert. Die aktuellen Sanktionsdrohungen drücken noch stärker auf das Klima. Unter diesen Umständen kann ich mir nicht vorstellen, dass Russland in nächster Zeit zahlen wird. Es wird in diesem Fall noch sehr viele Verzögerungen geben. Wir sprechen eher von Jahren als von Monaten.
Tages-Anzeiger: Wie wirkt sich das Urteil auf Putins Popularität aus? Immerhin hat ein Gericht nun offiziell bestätigt, dass im Kreml Diebe sitzen.
Jens Siegert: Das weiss man hier ohnehin. Die Frage ist bloss: Findet man dies richtig oder falsch? Im Fall Jukos hat Putin das Volk auf seiner Seite, und zwar unabhängig von der jüngsten Propagandawelle. Chodorkowski wird als Vertreter jener Generation von Oligarchen gesehen, die ihr Vermögen in den neunziger Jahren auf Kosten der Gesellschaft erwirtschaftet haben. Eine Mehrheit rechnet es dem Kreml daher positiv an, dass er Chodorkowski das Vermögen weggenommen hat.
Tages-Anzeiger: Spielt das Urteil dem russischen Präsidenten demnach in die Hände?
Jens Siegert: Hierzulande ist die Ansicht weit verbreitet, dass grosse Vermögen letztlich nur auf Diebstahl basieren können. Wenn der Kreml die 50-Milliarden-Dollar-Forderung jetzt als politisches, gegen Russland gerichtetes Urteil abstempelt, so wird dies im Inland auf grosse Unterstützung stossen.
Tages-Anzeiger: Welchen Stellenwert hat die Justiz in Russland überhaupt?
Jens Siegert: Vielen Bürgern ist das Konzept des Rechtsstaats an sich fremd. Man versteht Recht als eine Variable der Macht: Wer vor Gericht recht bekommt, muss die Macht im Staat haben. Umgekehrt brauchen sich die Mächtigen gar nicht ans Recht zu halten. Diese zynische Einstellung zum Recht wird von der russischen Führung bewusst gefördert und kommt ihr im aktuellen Fall zu gut: Putin erzählt dem Volk seit Jahren, dass «die da drüben im Westen auch nicht besser sind». Der Gedanke, dass das Gericht in Den Haag politisch gesteuert sein muss, ist für viele Menschen in Russland sehr einleuchtend.