Michail Chodorkowskij ist frei. Er wurde in einer Art geheimdienstlichen Spezialoperation freigelassen und sofort nach Deutschland ausgeflogen. Es sieht alles so auch als ob er keine Wahl hatte. (Fast) Alles, was davor passiert ist, bleibt vorerst Spekulation. Alle, die darüber erzählen (erzählen können), haben eigene Interessen, die Dinge so oder so darzustellen. Das gilt selbstverständlich auch für Chodorkowskij selbst, der sich morgen erstmals äußern wird. Weil alles also noch sehr frisch und unklar ist, versammelt dieser Post nur ein paar lose verbundene Gedanken zu dem, was gerade passiert.
Fangen wir mit der Entlassung an. Wie mir mehrere ehemalige politische Gefangene (in sowjetischen und russischen Lagern) erzählt haben, ist das eine komplizierte Angelegenheit, die Gefangene lange und gründlich durchdenken. Da es nicht um Recht geht, müssen auch Entlassungen vorbereitet sein, müssen sich Gefangene auch für Entlassungen überlegen ob und wenn ja welche Kompromisse sie für die Freiheit einzugehen bereit sind. In der Regel kommt einige Zeit vor dem „regulären“ Entlassungstermin jemand vom Geheimdienst und macht einen Vorschlag nach dem Motto: Du kommst frei, wenn Du diese und diese Bedingungen einhältst. Oder: Wenn Du das und das nicht machst oder sagst oder das und das machst, dann kann es Probleme geben. So ist es wohl, soweit wir wissen (jedenfalls schreibt zumindest die Zeitung Kommersant explizit darüber) auch bei Michail Chodorkowskij gelaufen. Wie könnte das Gespräch ausgesehen haben? Hier betrete ich das glatte Eis der Spekulation.
Mir scheinen drei Aspekte geeignet gewesen zu sein, Chodorkowskij von seiner bisherigen prinzipiellen Weigerung abzubringen, ein Gnadengesuch an Putin zu stellen. Zum einen, wichtigsten und verständlichsten natürlich der schlechte Gesundheitszustand seiner Mutter. Wollte er sie noch einmal in Freiheit in die Arme schließen, konnte er nicht prinzipienfest bleiben. Als zweites Druckmittel wird oft das von der Staatsanwaltschaft bereits angekündigte dritte Verfahren genannt, mittels dessen sich der Strafgefangene Chodorkowskij kurz vor Ende seiner Haftzeit leicht wieder in den Untersuchungsgefangenen Chodorkowskij verwandeln ließe, mit wer weiß wie vielen zusätzlichen Lagerjahren vor sich. Nun wird das nach bereits zehn Jahren in Haft wohl auch den härtesten Gefangenen schrecken. Aber mir scheint, ich kann nicht einmal so genau sagen, warum, dass das Chodorkowskij noch in Kauf genommen hätte. Doch hier kommt der dritte Aspekt ins Spiel.
Ein ehemalige Jukos-Mitarbeiter, der siebeneinhalb Jahre im Lager war, weil er sich weigerte gegen Chodorkowskij und Lebedew auszusagen, erzählte mir gestern Abend, er habe sich, seit ein drittes Verfahren wahrscheinlicher geworden sei, ernsthafte Gedanken gemacht, auszuwandern. Denn so ein Verfahren ist nicht denkbar ohne eine ganze Reihe von begleitenden Verfahren, mit denen die Staatsanwaltschaft „nachzuweisen“ versucht, hier habe eine ganze kriminelle Bande gewirkt, mit Chodorkowskij an der Spitze. So war es in den bisherigen Verfahren und damit wird auch eine besondere Schwere der angeblichen Verbrechen begründet und hohe Strafmaße. Chodorkowskij hätte also durchaus vor die Wahl gestellt worden sein können, mit seiner Sturheit (oder: Prizipientreue) eine ganze Reihe ehemalige MitarbeiterInnen erstmals oder erneut zu gefährden. Soweit ich Chodorkowksij beurteilen kann, ist er ein sehr loyaler und verantwortungsbewusster Mensch. Diese Wahl könnte ihn also zum Einlenken bewogen haben.
Man kann sich sicher noch weitere Aspekte vorstellen, aber ich will es hier damit bewenden lassen und zur anderen Seite übergehen. Warum war es dem Kreml so wichtig, Chodorkowskij jetzt rauszulassen und das auch noch so zu inszenieren. Dazu fallen mir zwei Dinge ein: Das Image und die Prozesse um Jukos vor internationalen Gerichten.
Zuerst zum Image. Bald sind die Olympischen Spiel in Sotschi und die internationale Kritik an Menschenrechtsverletzungen in Russland wächst langsam. Eine einzelne Absage von Gauck, dorthin zu fahren, mag wenig bewirken. Aber wenn der Chor anschwillt, kann man schon nervös werden. Außerdem liegt es in der bisherigen Linie Putinscher Politik, nach Phasen kalkulierter Konfrontation (mit dem Westen) immer mal wieder freundlichere Phasen einzustreuen. Zusammen mit dem PR-Coup, der sicher klammheimlichen Freude es mal wieder allen gezeigt und alle überrascht zu haben ist das schon wert, jemanden freizulassen, der in knapp 250 tagen ohnehin frei gekommen wäre – dann aber ohne Tam-Tam und Schulterklopfen.
Zum Tam-Tam gehört natürlich auch die alte Leier, Chodorkowksij sei nun gerade kein Freiheitsheld, eben kein Mandela oder Havel. Das stimmt. Er war Unternehmer in einem Land, dessen Regeln für Unternehmertum, sagen wir mal vorsichtig, unterentwickelt waren (und bis heute sind). Aber erstens war er nun zehn Jahre im Lager und hat sich dort sehr anständig verhalten und gehalten. Und zweitens ist das Schreckbild der raubtierartigen Oligarchen der 1990er Jahre, die handstreichartig Staat und Land übernommen haben, zu denen Chodorkowskij gezählt wird und dem der den Staat wieder in Ordnung bringende Putin gegenüber gestellt wird, zumindest einseitig, wenn nicht in dieser Form falsch.
Dieses heute vorherrschende Bild der 1990er Jahre als die „Chaos-Jahres“ ist in vielem Produkt der Putinschen Propaganda. Putin hat die Oligarchen nicht abgeschafft. Er hat sie sich unter geordnet und eine neue, viel effektivere Form von Oligarchie geschaffen, in der politische und wirtschaftliche Macht wirklich verschmolzen sind. Das neue System ist viel oligarchischer als das alte. Die „Oligarchen“ der 1990er Jahre wurden das vor allem wegen der Schwäche des Staates. Es gab, entgegen der heutigen Legende, keine feindliche Übernahme, sondern eher den Hilferuf des Staates. Dem sind die dann erst später Oligarchen genannten Unternehmer zu Anfang eher widerwillig gefolgt und unter der (tatsächlichen oder antizipierten) Gefahr einer kommunistische Restauration. In diesem Prozess sind dann einige wirklich auf den Geschmack gekommen. Chodorkowskij hat aber (im Gegensatz zu anderen, wie z.B. Boris Beresowskij) ziemlich schnell verstanden, dass sich das ohne Rückhalt in der Bevölkerung, der die großen Vermögen erst legitimiert, nicht lange würde halten lassen. Putin hat ihn dann 2003 einsperren lassen, als er verbindliche Regeln für alle forderte, für das große Kapital wie für den Staat. Das konnte Putin nicht zulassen, weil es eine Gefährdung seiner Herrschaft war.
Ich will Chodorkowksij hier nicht idealisieren. Aber er unterscheidet sich von vielen anderen, die heute immer noch sehr sehr reich sind und/oder sehr sehr viel Macht haben, dadurch, dass er in Wort und Tat von diesem Weg abgewichen ist. Dass Verfolgung und das Gefängnis diese Abwendung verstärkt und verstetigt haben, zu seinem Nachteil auszulegen, wäre unanständig.
Was wird Chodorkowskij nun in Freiheit tun (können, dürfen)? Ob er sich zurücknehmen wird (muss) oder nicht, kann ich schwer beurteilen. Die gestrige Reise aus dem Lager direkt nach Berlin erinnert doch sehr an sowjetische Abschiebungen ins Exil. Niemand weiß, ob es einen informellen Deal gegeben hat und wenn ja, was dessen genauer Inhalt ist. Chodrokowskij selbst hat schon seit einiger Zeit immer wieder betont, dass er nicht in die Politik gehen wird, sondern sich gesellschaftlich engagieren will. Natürlich sind die Grenzen hier (besonders in Russland) fließend. Aber es gibt sie trotzdem. Ich habe nicht den Eindruck, dass Chodorkowskij ein „gebrochener Mann“ ist. Im Gegenteil. Er hat sich in der Haft (noch weiter) zu einer beeindruckenden Persönlichkeit entwickelt mit einem für jemanden, der in vielem von der Welt abgeschlossen ist, erstaunlich klaren Urteil über die Lage hier im Land (und in der Welt). Die Kompromisse, die er nun mutmaßlich zu seiner Freilassung eingegangen ist, ist er, nach allem, was ich beurteilen kann, mit erhobenem Kopf und menschlich anständig eingegangen. Und zum Wunsch, frei zu kommen und seine Mutter vor ihrem möglicherweise nahen Tod noch einmal in Freiheit sehen zu können, kann ich nur sagen, dass es fast schon unmenschlicher Zynismus wäre, das nicht zu verstehen.