In der Ukraine protestiert die Opposition. In Russland denkt die Opposition darüber nach, was in der Ukraine anders ist (wie z. B. Nikolay Klimenyuk hier). Warum es einen (aus russischer Sicht!) nur vergleichsweise kleinen Anlass braucht, um Hundertausende auf die Straße zu bringen? Warum sich der Premierminister sofort entschuldigt und der Präsident (fast schon ängstlich) erklärt, er sei nicht Schuld, wenn Spezialeinheiten der Polizei eine Demonstration gewaltsam auflösen und einige Dutzende DemonstrantInnen festnehmen? Warum die UkrainerInnen (im Gegensatz zu den RussenInnen) offenbar manchmal das Brot geringer und ihre Freiheit höher schätzen? Warum also, kurz gesagt, ist die Ukraine (ist es in der Ukraine) anders als (in) Russland? Ich versuche, der Sache ein wenig auf den Grund zu gehen.
Grund 1: Die Protestierenden in der Ukraine haben ein konkretes Ziel: Neuwahlen des Präsidenten. Im Gegensatz zu den Protesten gegen die Wahlfälschungen in Russland im Winter 2011/2012 verbinden sie mit ihrem Protest die (wohl berechtigte Hoffnung), dass der jetzige Präsident Wiktor Janukowitsch bei Neuwahlen verlieren würde und der wahrscheinliche Wahlgewinner (oder die Gewinnerin) flugs das von Janukowitsch gerade gekippte Assoziierungsabkommen ratifizieren würde. Diese Hoffnung lässt die Kiewer DemonstrantInnen aushalten und sie hält Janukowitsch von (allzu) gewaltsamen Gegenmaßnahmen ab (wegen der Angst vorm Amtsverlust und wegen der Angst, dafür später belangt zu werden). In Russland dagegen war nach der Wiederwahl von Wladimir Putin im März vorigen Jahres nach übereinstimmender Meinung alles Beteiligten die Sache grundsätzlich entscheiden und damit die Luft raus.
Grund 2: Die Opposition in der Ukraine ist in vielen Parlamenten auf allen Ebenen vertreten. Es gibt, mehr noch, eigentlich keine wirkliche «Partei der Macht» (wie Putins «Einiges Russland»). Die Janukowitsch-«Partei der Regionen» hat gerade in vielen Regionen (vor allem natürlich im Westen) keine Mehrheit. Wichtiger noch wahrscheinlich ist aber die Trennung des Landes in einen (weitgehend ukrainischsprachigen) Westen und einen (weitgehend russischsprachigen) Osten. So gibt es zwei annähernd gleich starke politische Blöcke, von denen keiner den anderen – bei Strafe des Zerfalls des Landes – dominieren kann. In Russland hat sich Wladimir Putin seit Mitte der 2000er Jahre ein Monopol auf Politik auf allen Ebenen verschafft. Die Opposition in der Ukraine kämpft also auf Augenhöhe, während die Auseinandersetzung in Russland ein uphill struggle ist.
Noch aus Grund 2 erwächst Grund 3: Es gibt kein weitgehend geschlossenes (oder zur Geschlossenheit gezungenes) politisches und wirtschaftliches Establishment. In der Ukraine haben sich öffentlich bekannte VertreterInnen aus der Wirtschaft, aus den Kirchen, aber auch aus der Verwaltung, aus den Universitäten und den Medien mit den Protestierenden solidarisiert. Das ist in Russland (fast) undenkbar. Weil die Justiz, die Polizei, der Geheimdienst von Putin in den vergangenen Jahren zu einem jederzeit einsatzbaren Instrument gegen jedwede politische, mediale oder wirtschaftliche Opposition ausgebaut wurden, leben alle immer unter dem Damoklesschwert, ihren Posten, ihr Business, ihren Zugang zum landesweiten Fernsehen, kurz, Einfluss, Geld und mitunter Freiheit zu verlieren, sollten sie öffentlich gegen den Kreml Stellung beziehen. Leisten können (und wollen) sich das nur wenige: einige Musiker und Schriftsteller, sowie ein paar Leute, die Geld nicht durch Staatsnähe, sondern durch, wie man so schön sagt, «eigener Hände und Köpfe Arbeit» gemacht haben. Mehr ist nicht drin.
Damit kommen wir zu Punkt 4 (der auch mit Punkt 2 und Punkt 3 zusammen hängt): Es gibt in der Ukraine landesweite Fernsehsender, die nicht jedem Wink der Präsidentenadminsitration folgen (oder ihn willig vorwegnehmen). Zwar konnten die Proteste vom Winter 2011/2012 in Russland auch nur deshalb so anwachsen, weil das Internet inzwischen in mehr als 50 Prozent der russischen Haushalte Einzug gehalten hat. Aber das reicht noch lange nicht aus, den Einfluss des vom Kreml kontrollierten und zu einer unbarmherzigen Propagandamaschine ausgebauten Fernsehens auszugleichen.
Punkt 5: Die Proteste in der Ukraine stützen sich, nicht zuletzt wegen des Ost-West-Gegensatzes, auf eine viel breitere soziale und regionale Basis als diejenigen in Russland. Hier ist der Protest bis heute weitgehend eine Hauptstadtphänomen und die Sache einer in ihren Ansichten, Wohlergehen und Lebensstilen «europäisierten» Mittelschicht. Daher kann Putin, ohne allzu rot zu werden (was ihm ohnehin nicht eigen ist), davon sprechen, seine Politik stehe für eine «überwältigende Mehrheit» der Menschen in Russland. Für eine ähnliche Behauptung würde jede(r) ukrainische PräsidentIn ausgelacht.
Damit will ich ein wenig die Argumentationsebene wechseln. Mir scheint, die Opposiiton in der Ukraine, ja eine Mehrheit der Menschen dort, ist (noch?) empfänglich für eine doppelte Erzählung. Zum einen: Wenn wir, die Ukraine, „europäischer“ werden, wird es uns (vielleicht nicht gleich, aber auf längere Sicht) besser gehen. Zum anderen: Wir sind ein unabhängiger Staat.
Der erste Teil dieser Erzählung funktionierte in Russland nur in den 1990er Jahren (mit abnehmender Wirkung, je näher die Jahrtausendwende kam). Seither ist er tot (oder lebt höchstens in solchen Qualitätsbegriffen wie „Euro-Renovierung“ weiter). Vielleicht nicht mausetot, aber doch so tot, dass damit auf absehbare Zeit kein (erfolgreicher) Staat mehr zu machen ist. Warum dieser Teil der Erzählung in Russland recht schnell gestorben ist, in der Ukraine aber immer noch lebt (wie gesund und munter allerdings, also ob nicht doch schon einigermaßen malade, fällt mir schwer zu beurteilen), hat viel (wenn auch nicht nur) mit dem zweiten Teil der Erzählung zu tun. Dieser Teil erzählt darüber, wie der heutige russische Staat und der heutige ukrainische Staat entstanden sind.
Das heutige Russland ist der Rest eines Imperiums, mit allen sich daraus ergebenden (Phantom-)Schmerzen. Niemand von Bedeutung hat das prägnanter (man könnte auch sagen: brutaler) formuliert als Wladimir Putin, als er, noch ganz am Beginn seiner Präsidentschaft, die (Selbst-)Auflösung der Sowjetunion „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ nannte. Ganz im Gegensatz dazu steht die Geburtserzählung der Ukraine. Sie ist vor allem eine Erzählung der Befreiung, grob, aber dafür deutlich gesagt, der Befreiung vom jahrhundertelangen „Moskauer Joch“. Zwar wird sie vom galizischen Westen bis zum Osten am Don zunehmend schwächer, aber über das ganze Land gesehen ist sie doch sehr wirkmächtig.
Im heutigen Fall wirkt diese Erzählung vor allem wegen des (zu) offensichtlichen Drucks aus Moskau. Janukowitsch hätte wahrscheinlich ohne große Proteste die Ratifizierung des Assoziationsabkommens mit der EU verschieben oder verweigern können, gäbe es glaubhafte „ukrainische“ Gründe als Grundlage dieser Entscheidung. Doch diesen Ausweg (wenn es ihn denn wirklich gegeben hat) hat er sich mit der Schaukelpolitik zwischen EU und Russland verbaut (die er im Übrigen nicht erfunden hat. Sie ist die mehr oder weniger dominante Grundlage der ukrainischen Politik seit der Unabhängigkeit 1991). Doch so, wie es nun gelaufen ist, hat die Entscheidung von Janukowitsch, nicht zu ratifizieren den starken Geruch der Fremdbestimmung. Noch dazu Fremdbestimmung durch die ehemalige „Kolonialmacht“. Noch dazu Fremdbestimmung durch die doch so nahen „ostslawischen Brüder“. Gerade Letzteres ist für viele Menschen in Russland schwer bis gar nicht zu verstehen. Sie lamentieren dann: „Aber wir sind doch Brüder!“ (Schwestern sind in diesem Dialog auf beiden Seiten bis heute nicht vorgesehen). Und die Ukrainer erwidern: „Eben weil wir Brüder sind!“.
Abschließen möchte ich dann doch mit noch einem Grund, dem 6.: Denn im Grunde scheint es mir beim Massenprotest (ich meine die Hunderttausenden auf dem Maidan in Kiew am vergangenen, dem letzten Novemberwochenende, nicht die fünf- oder zehntausend direkt nach dem Janukowitsch-Nein auf dem EU-Gipfel in Vilnius) nicht so sehr um die EU zu gehen, als um die Reaktion der Polizei auf die Proteste. Erst nachdem die Sondertruppen „Berkut“ eine der ersten Pro-EU-Demonstrationen am vergangenen Donnerstag auseinandergeprügelt hatten, wurde der Unmut massenhaft. Er richtet sich sehr stark, ganz anders als in Russland, gegen Anmaßung des Staates, das Demonstrationsrecht einzuschränken. Ich vermute, das Präsident und Premier vor allem deshalb so schnell zurück gerudert sind.
Es geht also um die Kultur der politischen Auseinandersetzung, die politische Kultur also, die sich in der unabhängigen Ukraine seit Anfang der 1990er Jahre heraus gebildet hat. Sie macht es nicht comme il faut Gewalt gegen den politischen Gegner einzusetzen (ein paar im Ganzen doch eher harmlose Prügeleien im Parlament mal ausgenommen). Und Janukowitsch segelt mit seiner Privatgefangenen Julia Timoschenko hier schon länger am Rande des allgemein im Land Gutgeheißenen.
Es gab in der Ukraine keinen Beschuss des Parlaments durch Panzer, wie in Russland im Herbst 1993, der bis heute die Tonlage zwischen zwei im Wortsinn tödlich verfeindeten politischen Lagern bestimmt. Es gab keine Krieg in Tschetschenien. Auch die sogenannten „orangene Revolution“ war ein friedlicher Machtwechsel, letztlich ein Machtwechsel durch Wahlen, dessen Ergebnis erneut durch Wahlen revidiert wurde. Diese letztendlich friedliche Tradition trifft auf eine zutiefst zynisches Politikverständnis in Russland (nicht dass es in der Ukraine nicht auch mitunter zynisch zuginge, nur eben ein wenig weniger und ein wenig weniger hart), das solch eine Traditionsbildung politischer Kultur grundsätzlich für unmöglich hält, ja maximal für eine, womöglich noch perfidere „Technologie“ im politischen Machtkampf.
Zum Glück für die Ukraine, machen die Entscheider im Kreml und ihre Hilfstruppen auch deshalb immer wieder entscheidende Fehler. Zum Pech für Russland hilft das dem Land selbst wenig.