Wie nach den massenhaften „Überprüfungen“ von russischen NGOs seit Mitte März (inzwischen mehr als 600) durch Staatsanwaltschaft und andere Behörden zu erwarten war, kommen nun langsam die Beanstandungen. Betroffen sind inzwischen mindestens 39 NGOs im ganzen Land und mit ganz unterschiedlichen Profilen, von Menschenrechtsorganisationen wie dem „Antidiskriminierungszentrum“ in St. Petersburg (es beschäftigt sich vor allem mit den Rechten von Roma), Memorial Rjasan (eine durchaus typische regionale Memorial-Organisation mit der Mischung aus Geschichtsaufarbeitung, Menschenrechte und soziale Fürsorge für Opfer politischer Verfolgung), über eine „Gesellschaft zur Hilfe für Mukoviszidose-Erkrankte in Istra bei Moskau bis zu einem Kranich- und Storchenpark am Amur im Fernen Osten (Zählung auf der Website des Human Rights Youth Movements vom 10. Mai 2013, nach den Feiertagen, also ab kommenden Montag werden weitere hinzu kommen).
An Hand der bisher von den Staatsanwaltschaften, manchmal auch dem Justizministerium ergangenen Bescheide lassen sich bisher grundsätzlich zwei unterschiedliche Vorgehensweisen ausmachen. Die erste, bisher wesentlich kleinere Gruppe umfasst acht Organisationen, die alle eine sogenannte „predstavlenie“ erhalten haben, also den „Auftrag“, eine behördliche Rechtsverletzung zu beseitigen. Gegen vier von ihnen sind auch gleich Geldstrafen verhängt worden.
Ich möchte die Logik hinter diesen „Aufträgen“ am Beispiel des „Menschenrechtszentrum Memorial“ erläutern (das bisher nicht weiter bestraft worden ist). Dem Menschenrechtszentrum wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, dass es sich, obwohl es sich „politisch betätige“ und Geld aus dem Ausland bekomme, nicht als „ausländischer Agent“ beim Justizministerium registrieren lassen habe. Damit sei der „Agentenpassus“ des NGO-Gesetzes verletzt, der eben das vorschreibe.
Dabei wird von der Staatsanwaltschaft nicht die gesamte Tätigkeit des Menschenrechtszentrums als „politisch“ eingestuft (das ist in den anderen Fällen ebenso), sondern nur ein vergleichsweise junges Teilprogramm, das sogenannte OVD-Info. OVD ist die Abkürzung für „Abteilung für innere Angelegenheiten“ und ist die kleinste Verwaltungsabteilung des Innenministeriums. Das OVD-Info entstand mit der zunehmenden Kriminalisierung von DemonstrantInnen und anderen Oppositionellen im vergangenen Jahr als Initiative junger AktivistInnen, die, in schöner Tradition zu ihren Dissidenten-VorgängerInnen aus der Sowjetunion, wahrscheinlich politisch motivierte Aktionen von Strafverfolgungsbehörden dokumentieren.
Vielleicht ist der Vergleich doch etwas zu hoch gegriffen, aber im Grunde ist es die gleiche Arbeit, die seit dem Ende der 1970er Jahre die Untergrund-„Chronik der laufenden Ereignisse“ leistete. Damals mit Schreibmaschine und Kohlepapier konspirativ in Wohnungen, heute mit Computern, Smartphones und im Internet. Vor zwei Monaten kam die zunehmend professionalisierte und mit den Ereignissen zunehmende Arbeit der OVD-Info-MacherInnen im Menschenrechtszentrum Memorial unter.
Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, gerade das OVD-Info sei „politisch“, folgt einem klassischen Zirkelschluss: Da es in heutigen Russland, das sich selbst eine Demokratie nennt, mit liberalen Verfassung, freien Medien und vor allem einer unabhängigen Gerichtsbarkeit keine politisch motivierte Strafverfolgung gebe, könne die Dokumentierung von als „politisch motiviert“ behaupteten staatlichen Vorgehen gegen Oppositionelle nur eine „politische Tätigkeit“ sein. Also: Agent.
Für das Menschenrechtszentrum Memorial (so wie auch dem Antidiskriminierungszentrum oder der auch den WahlbeobachterInnen von Golos, die mit strukturell ähnlichen Argumentationen von der Staatsanwaltschaft als „politisch“ eingestuft worden sind) gibt es nun zwei Möglichkeiten, auf diese amtliche Behauptung einer Rechtsverletzung (hinter der natürlich eine gesetzliche Strafandrohung steht, nämlich hohe Geldstrafen und sogar Gefängnis) zu reagieren: Es kann sich als „Agenten“ registrieren lassen (was für Memorial ausgeschlossen ist) oder gegen den „Auftrag“ der Staatsanwaltschaft mit dem Argument vorgehen, kein Gesetz verletzt zu haben. Die Chancen, vor Gericht zu gewinnen, sind erfahrungsgemäß klein. Die NGOs mit einem „Auftrag“ müssen also, so sie sich nicht als „Agenten“ registrieren lassen mit großer Wahrscheinlichkeit mit ihrer Liquidierung rechnen.
Die andere, größere Gruppe besteht bis heute aus 31 Organisationen. Sie sind „gewarnt“ worden (russisch: „predostereschenije“), dass ihre Satzungen „politische Tätigkeit“ zuließen. Meist bezieht sich diese „Warnung“ auf Passungen in der Satzung, dass die entsprechende NGO in der einen oder der anderen legalen und legitimen Weise im Rahmen der Satzungsziele „Einfluss auf die Öffentlichkeit“ oder „Einfluss auf die staatliche Politik“ zu nehmen gedenkt (die Satzungen sind im Übrigen alle irgendwann einmal in meist mühevollen Abstimmungsprozessen von den Justizbehörden genehmigt worden).
Nun werden diese NGOs in den „Warnungen darauf hingewiesen, sich erst als „Agenten“ registrieren zu lassen, bevor sie damit an fangen diese Satzungsziele zu verwirklichen (was sie, dieser Logik folgend, bisher noch nicht getan haben). Der „Agentenpassus“ im NGO-Gesetz fordert genau diese Reihenfolge für NGOs, die Geld aus dem Ausland bekommen: erst registrieren, dann „politische Tätigkeit“.
Die so „gewarnten“ NGOs haben also noch keine unmittelbaren Sanktionen zu gewahren. Aber ihnen ist damit gezeigt worden, dass sie am Haken der Strafverfolgungs- und Justizbehörden hängen, da, wie sie gerade zeigt, allein die Staatsanwaltschaft definiert, was „politische Tätigkeit“ heißt.
Damit zeichnet sich langsam die Strategie hinter dem gegenwärtigen Vorgehen gegen die NGOs in Russland ab: Einige werden wohl zugemacht werden. Der größeren Grupp der anderen wird damit zugleich gezeigt, was ihnen droht, wenn sie nicht auf ausländisches Geld verzichten oder sich nicht anderweitig brav verhalten. Es geht also darum die bisher noch vom Kreml weitgehend unabhängigen NGOs unter direkte Kontrolle zu bringen – oder zu schließen.