Archangelsk war eine der ersten russischen Regionen, in denen, noch vor St. Petersburg, ein Gesetz verabschiedet wurde, das, wie es so schön heißt, „Propaganda für Homosexualität“ verbietet. Wer das Gesetz nicht beachtet, muss mit einer Geldstrafe zwischen 1.500 und 50.000 Rubel (umgerechnet etwa 40 bis 1.200 Euro) rechnen. Dagegen klagte die LGBT-Aktivistin Tatjana Winnikowa, verlor in allen unteren Instanzen und bekam nun vor dem Obersten Gericht zumindest teilweise Recht.
Manchmal scheinen russische Gerichte (je höher, desto öfter) doch Recht zu sprechen (und nicht kommerzielle oder politische Aufträge und befehle auszuführen). „Scheinen“ im Sinn von „anscheinend“, weil man trotzdem nie so genau weiß, ob hinter einem richtigen Urteil (richtig im Sinn von dem Recht entsprechend) nicht doch politische Gründe (und Auftrag- oder Befehlsgeber) stehen. Aber vorläufig müssen wir auch dafür ein wenig dankbar sein.
Zurück zum LGBTI-Urteil des obersten Gerichts. Ein voller Sieg ist es nicht. Denn im Grundsatz bejahten auch die Obersten Richter das Recht des Regionalparlaments, „Agitation von sexuellen Minderheiten“ einzuschränken, wenn damit die „physische und geistige Gesundheit“ von Kindern und Heranwachsenden geschützt werde. Das, so die Richter, widerspräche auch nicht der russischen Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention (die in Russland laut Verfassung direkte Gesetzeskraft hat – im Prinzip jedenfalls, wie das im klassischen „Land des Prinzips, von dem viele sowjetischen und auch moderne russische Witze zeugen, auch nicht anders sein kann).
Wörtlich urteilten die Richter so: „Das Verbot der Propaganda steht der Realisierung des Rechts Informationen neutralen Inhalts über Homosexualität zu verbreiten und zu erhalten, sowie öffentliche Veranstaltungen abzuhalten nicht im Wege (…), das gilt auch für offene Debatten über den sozialen Status von sexuellen Minderheiten.“ Das Gericht macht also einen Unterschied zwischen „Propaganda“ und „Inforationen neutralen Inhalts“. „Propaganda“ sei es, wenn Minderjährigen „Vorbilder nichttraditioneller sexueller Orientierungen aufgezwungen“ würden. Das, nämlich den Zwang, müssen die Behörden (und möglicherweise weitere Gesetzgeber bis hin zur Staatsduma, denen schon entsprechende Gesetzesinitiativen vorliegen) nun nachweisen, bevor sie irgendetwas im Zusammenhang mit Nicht-Heterosexuellem verbieten wollen.
Demonstrationen und Mahnwachen gehören nicht mehr dazu. Das hat das Oberste Gericht mit Hinweis auf die Meinungs- und Redefreiheit ausdrücklich festgestellt. Das Urteil bringt damit gegenüber der Behördenpraxis in den bisher betroffenen Regionen (……) praktisch jede offene und öffentliche Regung von Schwulen, Lesben, Transgendern und anderen zu Propaganda und damit verboten zu erklären, erhebliche Erleichterung. So wirklich große Freude kommt aber trotzdem nicht auf. Denn Ton und auch Argumentation des Gerichts fügen sich ganz in den grundsätzlich ablehnenden und diskriminierenden Duktus der politischen Führung und einer großen Mehrheit in der russischen Gesellschaft gegenüber sexuellen Minderheiten. Ja, diese Ablehnung bezieht sich oft nicht nur auf sexuelle Minderheiten, sondern auf Minderheiten, auf „andere“ überhaupt. So unterstützt das Oberste Gericht mittelbar die zunehmende Abschließung der russischen Gesellschaft. Das ist grundsätzlich ein gefährlicher Weg, für ein derart diverses Land wie Russland aber wohl noch gefährlicher.