Am Sonntag findet in Jaroslawl, einem regionalen Zentrum, rund 300 Kilometer nördlich von Moskau an der Wolga gelegen, die zweite Tour der Bürgermeisterwahlen statt. Schon dass es in Jaroslawl noch Bürgermeisterwahlen gibt, macht die Sache besonders. Die zweite Tour, dass also nicht der Kandidat von Einiges Russland schon in der ersten Runde gewonnen hat, sondern dort sogar nur Zweiter wurde, erhöht diese Besonderheit noch. Der Gipfel ist aber, dass am Sonntag tatsächlich ein Oppositioneller in einer russischen Großstadt Bürgermeister werden kann.
Es hat sich viel verändert in Russland seit jenem nun schon legendären 24. September 2011, an dem Putin mit seinem Allmachtgehabe überdreht hat. Oben, bei den Dumawahlen und den Präsidentenwahlen hat er zwar noch den Deckel drauf, wenn auch mitunter mit Mühe. Auch die Gouverneure werden vorerst weiter vom Kreml ernannt. Allerdings wirft das den Protestierenden nach der Dumawahl im Dezember gegeben Versprechen, die direkte Wahl der Gouverneure wieder einzuführen, bereits seine erregten und spekulativen Schatten in der russischen Presse- und Politiklandschaft.
Doch während es oben (incl. Parteiengesetz) noch weitgehend um Fingerhakeln geht, die reale Macht aber in den gleichen Händen bleibt wie bisher, könnten ganz unten bald Posten wechseln. Man könnte es auch das Graswurzeln der russischen Demokratie nennen. An drei Beispielen will ich das etwas anschaulicher machen: den Bürgermeisterwahlen in Jaroslawl und in Archangelsk, sowie den Wahlen zu den Bezirksparlamenten in Moskau. Alle Wahlen fanden gleichzeitig mit den Präsidentenwahlen am 4. März statt. Zuerst zu Jaroslawl.
Die Stadt ist eigentlich nicht gegen Putin. Offiziell stimmten rund 60 Prozent am 4. März für ihn. Auch tatsächlich dürften es noch viele gewesen sein, zumal Jaroslawl im Ruf steht, dort werde eher weniger als mehr gefälscht. Solche Regionen gibt es (wie auch andere). Doch bei den Bürgermeisterwahlen stimmten im ersten Wahlgang nur 27 Prozent für den Kandidaten der Kremlpartei Einiges Russland, den Unternehmer Jakow Jakuschew, 40 Prozent aber für Jewgenij Urlaschow, einen Kremldissidenten. Bis zum September war auch Urlaschow Mitglied von Einiges Russland, trat aber nach der Flugzeugkatastrophe zurück, bei der fast die gesamte örtliche Eishockeymannschaft ums Leben kam.
Die Abwendung Urlaschows von Einiges Russland dürfte eine entscheidende Rolle gespielt haben. Die Partei wird das Label, sie sei ein Hort von „Gaunern und Dieben“ nicht los. In Jaroslawl bekam sie bei den Dumawahlen im Dezember offiziell weniger als 30 Prozent, das niedrigste Ergebnis im ganzen Land. Um nun einen wenigstens einigermaßen fairen zweiten Wahlgang sicher zu stellen, folgten freiwillige WahlbeobachterInnen aus dem ganzen Land einem Aufruf und fuhren nach Jaroslawl. Die Wahl hat längst eine weit über die Grenzen der Stadt reichende Bedeutung bekommen. Wie schon bei den Präsidentenwahlen liegt der Schwarze Peter ohnehin längst beim Kreml. Gewinnt Urlaschow, ist der Beweis erbracht, das Machtwechsel durch Wahlen, wenn auch vorerst im Kleinen, in Russland sehr wohl möglich sind. Das wird die Oppositionsbewegung stärken. Gewinnt Jakuschew, werden die meisten Menschen davon überzeugt sein, dass das nicht mit (ge-)rechten Dingen zugegangen sein kann.
Letztere Frage stellt sich in Astrachan, an der Wolgamündung in das Kaspische Meer gelegen, ohnehin nicht. Dort ist der bei den Wahlen unterlegene Oppositionskandidat Oleg Schein von der Partei Gerechtes Russland gemeinsam mit 21 weiteren Menschen aus Protest gegen Wahlfälschungen seit dem 16. März im Hungerstreik. Während der Abstimmung am 4. März waren von WahlbeobachterInnen unzählige Wahlfälschungen festgestellt und dokumentiert worden. Mitglieder von Wahlkommissionen aus oppositionellen Parteien waren physisch bedrängt und bedroht worden, einige wurden geschlagen. In vielen Fällen führte das dazu, dass die Auszählung der Stimmen und die Ausfertigung der Wahlprotokolle ohne unabhängige oder oppositionelle BeobachterInnen vonstatten ging. Entsprechend erkennen Oleg Schein und seine AnhängerInnen das offizielle Ergebnis von gut 60 Prozent für den Kandidaten von oben, den bisherigen Vizebürgermeister Michail Stoljarow, und knapp 30 Prozent für Schein nicht an. Sie fordern, inzwischen schon mit landesweiter Aufmerksamkeit, eine Wiederholung der Wahl.
Schein hilft bei seinem Protest seine landesweite Bekanntheit und seine ausgezeichneten Verbindungen nach Moskau. Er war bis zu den Dumawahlen im Dezember drei Legislaturperioden lang Abgeordneter. Dabei gehörte er zu einer kleinen Gruppe von Mitgliedern der Fraktion seiner eigentlich durchaus kremlloyalen Partei Gerechtes Russland, die sich ein wenig Autonomie bewahrt hatten. Alle diese Abgeordneten stammten aus ursprünglich oppositionellen Zusammenhängen, hatten sich aber im Zuge der zunehmenden Verschärfung des vom Kreml ausgehenden unabhängigen Politikverbots von der etwas weniger anrüchigen Kremlpartei Gerechtes Russland kooptieren lassen (Schein kommt aus der national-sozialistischen Rodina-Partei und hat einen linksradikalen Hintergrund, andere, wie z.B. Oxana Dmitriejwa waren von Jabloko abgeworben worden).
Zum dritten Beispiel kommen wir nach Moskau. Hier fanden am 4. März parallel zur Präsidentenwahl Kommunalwahlen statt. Dabei ging es um die Besetzung der kleinen, wenig einflussreiche und mit geringen Kompetenzen ausgestatteten Stadtteilparlamenten, nicht die Moskauer Stadtduma, die den Status eines Regionalparlaments hat und im Dezember 2013 neu gewählt werden muss. Da Einiges Russland in Moskau bei den Dumawahlen eines der landesweit schlechtesten Ergebnisse erzielt hatte, bezeichneten sich die Kandidaten der Partei bei den Kommunalwahlen als „Unabhängige“.
Gleichzeitig stellten sich aber auch wirklich unabhängige KandidatInnen zur Wahl, darunter viele junge Menschen, die vorher mit Politik kaum etwas zu tun hatten und den meisten WählerInnen entsprechend unbekannt waren. Trotzdem gelangten rund 70 von ihnen tatsächlich in einige der insgesamt 124 Moskauer Stadtteilparlamente. In einigen dieser Parlamente fehlt Einiges Russland nun eine Zweidrittelmehrheit, die zur Wahl eines Vorsitzenden notwendig ist. Die Vorsitzenden haben praktisch die Verfügungsgewalt über die Budgets, bestimmen die Tagesordnung der Parlamentssitzungen und sind auch die einzigen Abgeordneten, die für ihre Arbeit bezahlt werden (und das für russische Verhältnisse mit rund 100.000 Rubel oder umgerechnet rund 2.500 Euro im Monat nicht schlecht). In diesen Parlamenten haben sich die neuen Oppositionellen zusammengeschlossen und fordern, dass man mit ihnen rede, unter welchen Bedingungen sie die Vorsitzenden mitwählen würden – und welche Vorsitzenden. Ihr Drohpotential ist ganz einfach: Sollte es nicht zu Gesprächen kommen, legen sie ihre Mandate nieder und Neuwahlen wären nötig. Niemand zweifelt daran, dass die Kandidaten von Einiges Russland noch weniger Sitze bekommen werden als diesmal.
Nun sind das drei kleine Geschichten in einem riesigen Land. Sie künden aber von einer wichtigen Veränderung, deren weitreichenden Konsequenzen sowohl den oppositionellen Akteuren als auch den Machthabern erst langsam klar zu werden scheinen: Wahlen sind wieder wichtig. Dem (Macht-)Zynismus derer oben Wahlen gegenüber (die kaum mehr als ein lästiges Ritual zur formalen Legitimitätserlangung waren) entsprach bis zum vergangenen Dezember die zynische Überzeugung der meisten Menschen (viele politisch aktive eingeschlossen), es ließe sich politisch ohnehin nichts ändern und über Wahlen schon gar nicht. Nun hat zeigt, dass viele Menschen Wahlen wieder ernst nehmen und die Macht Habenden sich darauf einstellen und reagieren (müssen). Und vorerst reagieren sie eher hilflos, mit der alten Überheblichkeit und groben Methoden wie Einschüchterung, Fälschung oder Festnahmen. Im Unterscheid zu früher (sprich: vor dem vergangenen Herbst) führt das gegenwärtig aber vorwiegend dazu, dass sich mehr und neue Leute engagieren.
Am Sonntag findet in Jaroslawl, einem regionalen Zentrum, rund 300 Kilometer nördlich von Moskau an der Wolga gelegen, die zweite Tour der Bürgermeisterwahlen statt. Schon dass es in Jaroslawl noch Bürgermeisterwahlen gibt, macht die Sache besonders. Die zweite Tour, dass also nicht der Kandidat von Einiges Russland schon in der ersten Runde gewonnen hat, sondern dort sogar nur Zweiter wurde, erhöht diese Besonderheit noch. Der Gipfel ist aber, dass am Sonntag tatsächlich ein Oppositioneller in einer russischen Großstadt Bürgermeister werden kann.