Es ist schon fast Routine und kaum noch jemand schaut hin. Das zweite Verfahren gegen Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew (diesmal werden sie beschuldigt, ihrem eigenen Konzern rund 25 Miliarden US-Dollar gestohlen zu haben) läuft seit gut einem Monat in einem Gericht in der Moskauer Innenstadt. Und es läuft zäh. Gemeinsam mit Marieluise Beck (MdB, Bündnis 90/Die Grünen) war ich heute im Gericht, ein kleiner, vierstäckiger Bau gegenüber vom Kiewer Bahnhof am anderen Ufer der Moskwa.
Der Zugang ist erstaunlich frei. Nur auf Waffen oder Fotoapparate werden Besucher am Eingang durchsucht und die Passdaten werden aufgeschrieben. Dann reiht man sich in die Schlange der Wartenden auf der Treppe ein. Vier dickbäuchige und stiernackige Millizionäre in Schwarz aus Sondereinheiten sperren en Durchgang, während Chodorkowskij und Lebedew in den Gerichtssal gebracht werden. Dort sitzen sie während des Prozesses in einem verglasten Metallkasten. Mit ihren insgesamt acht VerteidigerInnen verständigen sie sich durch schmale Schlitze. Der Gerichtssal mag vielleicht 50 Qudratmeter groß sein, vor einigen Jahren nachlässig renoviert. Unter den vielleicht 30 Zuschauern befinden sich außer uns die Mutter von Michail Chodorkowskij, der ehemalige Jabloko-Parteichef Grigorij Jawlinskij und eine ganze Reihe offesichtlich erfahrener AnhängerInnen der Angeklagten.
Der Einzelrichter kommt, alle stehen auf, wie es sich gehört. Er setzt sich, ein kleines Mänchen mit teigigem Gesicht. Es ist keine Glück als Richter einen Prozess führen zu müssen, dessen Urteil woanders beschlossen wird. Meist hört der Richter, wie es scheint, gelangweilt den Ausführungen der Staatsanwälte zu. Es geht heute um den Antrag der Verteidigung, das ganze Verfahren wegen schlampiger Ermittlungen abzubrechen und erneut untersuchen zu lassen. Einmal wird es auch ihm aber zu fad und er bittet den mühselig mit zusammengekniffenen Augen vom Blatt ablesenden Statsanwalt, sich doch kürzer zu fassen. Er könne seine Notizen dann doch gesammelt zu Protokoll geben. fast scheint so etwas wie Ironie aus seiner Stimme zu klingen. Sichtlich genervt willigt der Staatsanwalt ein. Die Protokollatin, rechts vom Richter, malt Strichmännchen an den Rand ihrer Mitschriften.
Die Angeklagten sind hinter dem spiegelnden Glas schelcht zu erkennen. Meist schreiben sie etwas oder lesen, zeitung oder irgendwelche Papiere. Ab und zu steht ein Anwalt oder einen Anwältin auf, steckt etwas durch einen der Schlitze oder spricht kurz mit Lebedew oder Chodorkowskij. Was der Statsanwalt herunter leiert, scheint sie nicht sonderlich zu beeindrucken. warum auch? Es ist offensichtlich ein Spiel, wenn auch mit ernstem Hintergrund: Die Verteidigung beantragt, die Anklage widerspricht, der Richter zieht sich zur Beratung zurück, mit wem auch immer, um nach einer guten Stunde das Ergebnis zu verkünden: Antrag abgelehnt. Dann geht es weiter mit den leiernden und angesichts ihrer Arbeit erstaunlich wenig vorlese-erfahreren Staatsanwälten. Oder wollen auch sie alles einfach nur hinter sich bringen? Eine riesengroße Scharade.
Achtzehn Tage dauerte allein die Verlesung der Anklage mit vielen Paragraphen und noch viel mehr Zahlen. Wirtschaftsprozesse sind ohnehin für Laien schwer durchschaubar. In diesem Verfahren werfen die verteidiger der Anklage vor, sich im eigenen Zahlen- und Paragraphenlabyrinth verirrt zu haben. Der Prozess wird wohl kaum vor dem kommenden Winter enden. Womit? Das weiß wohl noch niemand. Wie wird die Krise weiter gehen? Kann sich Medwedjew von Putin emanzipieren? Will er das überhaupt? Wie werden im kommenden Winter die Beziehungen zum Westen, zur EU, zu den USA sein? Von diesen und anderen Fragen wird das Urteil abhängen. In Moskau wird fast alles für möglich gehalten, von der Höchststrafe von 22 weiteren Jahren Lagerhaft bis zu einer kleineren Bewährungsstrafe, der dann die baldige Entlassung folgen könnte.
Wichtig bleibt trotz aller Unwägbarkeiten, dass die Initiatoren des Prozesses sich beobachtet fühlen. Heute waren Marieluise Beck da und Grigorij Jawlinskij, morgen kommen Arsenij Roginskij und Jelena Schemkowa von Memorial, am Mittwoch will der liberale Wirtschaftswissenschaftler und Kremlkritiker Jewgenij Gontmacher kommen. Zumindest Präsens will die liberale Moskauer politische Szene zeigen, wenn sie mehr auch nicht für einen fairen Prozess tun kann.