Die beiden Protesttage nach der Verhaftung von Alexej Navalnyj am 23. und 31. Januar gerieten eindrucksvoll. Nie zuvor, nicht einmal im Protestwinter 2011/2012, haben in so vielen Städten und Regionen Russlands so viele Menschen gegen Präsident Vladimir Putin demonstriert. Nie zuvor ist aber auch der Staat von Anfang an so massiv und repressiv gegen Demonstrantinnen und Demonstranten vorgegangen. Mehr als 10000 Menschen wurden festgenommen. In zahlreichen Strafverfahren und Administrativverfahren wurden viele der Festgenommenen inzwischen zu Arreststrafen und hohen Geldstrafen verurteilt. Viele Verfahren laufen noch. Mehr als ein Dutzend Menschen, darunter einige direkte Mitarbeiter*innen von Navalnyj, sitzen seit Ende Januar in Hausarrest und erwarten ihre Gerichtsverfahren. Ihnen wird die Verletzung der Sanitätsnormen während der Pandemie, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Aufruf zu nicht genehmigten Demonstrationen und Anstiftung von Minderjährigen zur Last gelegt.
Der Kreml nimmt Navalnyj und die Herausforderung durch ihn sehr ernst. Eine sich abzeichnende Protestbewegung soll offenbar bereits in ihren Ansätzen unterdrückt werden. Kurzfristig scheint diese Strategie aufzugehen. Nach einer Gerichtsverhandlung am 2. Februar haben die Navalnyj-Unterstützer*innen auf weitere Demonstrationsaufrufe verzichtet. Der Versuch, die Teilnehmer*innen mit alternativen Protestformen einem kleineren Risiko auszusetzen, fand Mitte Februar nur geringes Echo. Nur wenige folgten einem landesweiten Aufruf, in ihrer jeweiligen unmittelbaren Nachbarschaft bei Dunkelheit mit einer Taschenlampe auf die Straße zu gehen. Es gelang nicht, wie noch Ende Januar, mächtige und in den sozialen Netzwerken verbreitbare Bilder von Unmut und Protest zu produzieren. Seither versuchen die Navalnyj-Unterstützer im Internet 500000 Unterstützer unter der Forderung Freiheit für Navalnyj zusammen zu bekommen (Stand 8.4.2021: knapp 410000). Die Unterzeichnenden erklären dabei auch ihre Bereitschaft, an künftigen Protestaktionen teilzunehmen. Seit Anfang Februar konzentriert sich die Arbeit der Navalnyj-Anhänger*innen auf Solidarität mit dem Gefangenen. Ich sehe zwei Gründe für das harte staatliche Vorgehen gegen Navalnyj und seine Unterstützer*innen. Zum einen hat das Regime in den vergangenen Jahren viel an politischer Beweglichkeit eingebüßt. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass es selbst die eigene Legitimität nicht mehr sehr hoch einschätzt. Es ist zur Geisel der (selbsterzeugten, vordergründigen) Popularität der zunehmenden Konfrontation mit dem Westen geworden. Die verschiedenen Sicherheitsdienste wurden massiv ausgebaut und haben wohl auch bei der internen Politikformulierung immer mehr Einfluss gewonnen. Der zweite Grund ist das Publikwerden der Vergiftung Navalnyjs. Mit ihr wurde eine neue Qualität erreicht. Allen ist nun klar, dass es um Leben und Tod geht, und dass dieser Staat vor kaum etwas zurückschreckt. Das soll und sollte wohl erschrecken und abschrecken (was es auch tut), erzeugt aber gleichzeitig zusätzliche Entschlossenheit und Geschlossenheit auf der Protestseite. Dies alles mag keine bewusste Entscheidung des Kremls gewesen sein, da der Plan ja wohl war, die Vergiftung zu vertuschen. Nun ist es aber in der Welt.
Umfragen Anfang April zeigen, dass etwa 30 Prozent der Menschen in Russland die Inhaftierung Navalnyjs verurteilen. Allerdings finden sie 50 Prozent gerechtfertigt. Was beunruhigt den Kreml also so? Drei Umstände haben sich geändert. Da sind zum einen Umfragen, die sagen, dass der sog. Krimkonsens, der Putin seit 2014 in ungeahnte Zustimmungshöhen von mehr als 80 Prozent getragen hatte, seine Wirkung inzwischen weitgehend verloren hat. Die Zustimmung zu Putins Politik ist zurück bei 60 Prozent plus. Das Vertrauen in ihn persönlich und den Staat ist sogar auf weniger als 30 Prozent gefallen. Zum zweiten köcheln in Russland eine ganze Reihe von Krisen vor sich hin, teilweise schon seit längerem. Die Wirtschaft kommt seit 2013 nicht auf die Beine; Bildungs- und Gesundheitssysteme sind in beklagenswertem Zustand; die Korruption ist endemisch. Seit einem Jahr hat sich die Pandemie mit inzwischen geschätzten über 400000 Toten hinzugesellt. Keine dieser Krisen wäre wohl allein dazu in der Lage, viele Menschen dauerhaft auf die Straße zu bringen. Aber zusammen bilden sie einen Nährboden, der mit der Vergiftung und der Inhaftierung von Navalnyj zusätzlich gedüngt wurde.
Allerdings, und das ist Umstand Nummer drei, wären die neuen Proteste in dieser geographischen Ausdehnung und Größenordnung ohne die jahrelange Aufbauarbeit von Navalnyj kaum denkbar. Er hat es geschafft, ein stabiles landesweites Netzwerk aufzubauen, das gegenwärtig das einzige vom Kreml unabhängige politische Netzwerk ist. Dieses Netzwerk zu zerschlagen, dürfte zu den prioritären Zielen des Kremls gehören. Seine Mobilisierungsfähigkeit wurde erstmals im Frühjahr 2017 nach dem Navalnyj-Video über den Reichtum des damaligen Ministerpräsidenten Medvedev in Ansätzen sichtbar. Damals zeichnete sich schon ab, dass Navalnyj inzwischen auch eine neue Generation anspricht. In Umfragen sind die Zustimmung und Unterstützung für ihn je größer, umso jünger die Befragten sind. Das inzwischen erfolgreichste Video Nawalnyjs über „Putins Palast“, das im Januar mehr als 100 Millionen angeschaut wurde, davon etwa 70 Millionen Mal von URL-Adressen in Russland, hat die Mobilisierung zu den Protesten zweifellos verstärkt. Die Resonanz des Videos und die Größe und Breite der Proteste sind Ergebnis der gleichen Entwicklung.
Sie illustriert zugleich eine andere Änderung in der Zusammensetzung der Proteste, die sich sich in Zukunft als ähnlich wichtig erweisen könnte. Gegen Navalnyjs Verhaftung gingen, so legen Umfragen während der Demonstrationen nah, viele Leute zum ersten Mal auf die Straße. Sie wollten damit nicht unbedingt Navalnyj persönlich oder seine Politik unterstützen. Vielmehr ging es um und gegen Putin. Zu ihrer Motivation gefragt, gaben diese Menschen immer wieder an, dass es „nun reiche“, und dass die Vergiftung und Inhaftierung Navalnyjs „zu viel“ gewesen seien. Eine Rolle scheint auch sein Verhalten nach der Vergiftung zu spielen. Seine Reaktion hat ihm viel Respekt auch bei Leuten verschafft, die ihn oder seine Politik ansonsten nicht unterstützen. Das wurde durch die Rückkehr nach Russland noch einmal gesteigert. Damit ist Navalnyj auf bestem Weg, zum ersten Oppositionspolitiker in Putins Russland werden, der es schaffen könnte, von Menschen aus unterschiedlichen politischen Lagern unterstützt zu werden.
Wie könnte es weitergehen? Über zehn Jahre lang hat der Kreml alles dafür getan, um aus Navalnyj keinen Helden zu machen. Nun, nachdem Navalnyj durch die Vergiftung und Verhaftung für viele auch in Russland einen Opferstatus erlangt und sich durch seine Rückkehr enormen zusätzlichen Respekt verschafft hat, tut der Staat (fast) alles, um sein Heldentum zu unterstützen. Die Wahrscheinlichkeit weiterer, auch hoher Haftstrafen für Alexej Navalnyj ist groß. Ein Kalkül des Kremls könnte sein, dass Navalnyj im Gefängnis langsam an Handlungsfähigkeit verliert, seine Unterstützer ohne ihre Führungsperson und Ausäöngeschild an Kraft und Effektivität verlieren, sich Solidaritätsaktionen abnutzen und damit die Gefahr, die von Navalnyj ausgeht, mit der Zeit immer geringer wird. Es gibt dafür ebenso Beispiele wie für das Gegenteil. Deshalb dürfte der Druck auf die Navalnyj-Unterstützer in Freiheit weiter groß bleiben. Viel wird davon abhängen, ob es ihnen weiterhin gelingt, zumindest von Zeit zu Zeit zu größeren Protestaktionen zu mobilisieren. Eine Schlüsselrolle könnten die Parlamentswahlen im kommenden September spielen. Dort will Navalnyj durch eine Kampagne für sogenanntes „kluges Abstimmen“ (russ. umnoe golosovanie) eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Kremlpartei Einiges Russland verhindern.
Aber erst einmal muss Navalnyj im Gefängnis überleben. Seit Ende März befindet er sich mit der Forderung nach angemessener ärztlicher Behandlung im Hungerstreik. Er klagt über Schmerzen und Lähmungserscheinungen, die laut Aussagen von Ärzten eine Folge seiner Novitschok-Vergiftung sein könnten. Ein im Gefängnis sterbender Navalnyj würde die Karten neu mischen, mit unvorhersagbarem Ausgang.
Dieser Text ist zuerst in der Nummer 4/5 2021 von RGOW erschienen.
Inzwischen hat Nawalny den Hungerstreik beendet, der Staat hat seine sogenannten Operativstäbe in mehreren Dutzend russischer Regionen geschlossen und wird wahrscheinlich Mitte März seine Stiftung zum Kampf gegen Korruption zu einer extremistischen Organisation erklären. Dutzende seiner Mitstreiter*innen sitzen in Hausarrest und/oder sind von Strafverfahren bedroht. Einige wurden bereits zu Haftstrafen verurteilt. Alles sieht nach einem totalen Crackdown oppositioneller Politik aus.