#MeToo, Leonid Slutzkij und der Untergang des Abendlandes

Lange Zeit sah es so aus, als ob die #MeToo-Kampagne am neuen Russland abprallen würde. Zwar wurde in fast allen Medien ausführlich über den Weinstein-Skandal und #MeToo berichtet und in den sozialen Netzwerken heftig diskutiert, aber diejenigen, die mit den belästigten und vergewaltigten Frauen fühlten, blieben nur wenige. Es dominierte, besonders natürlich in den staatlichen Medien, aber auch sonst, die Auffassung, das sei ein typisch „westliches“ Phänomen, eine Art politisch korrekte Hysterie, die vor allem zweierlei zeige: die Meinungsdiktatur eines Mainstreams der „political correctness“ und die fortschreitende Degradierung westlicher Gesellschaften, ihr Abweichen von einem „natürlichen“ Weg. Russische Männer und Frauen, so die ebenso stereotype wie vorherrschende Meinung, seien dagegen noch „echte Männer“ und „richtige Frauen“.

Doch dann geschah im Februar etwas Unerwartetes. Drei in der Staatsduma, dem Parlament, akkreditierte Journalistinnen beschuldigten anonym den stellvertretenden Dumavorsitzenden Leonid Sluzkij, sie in den vergangenen Jahren sexuell belästigt zu haben. Sluzkij – ein einflussreicher Mann, soweit das im System Putin mit einem nicht sehr einflussreichen Parlament überhaupt möglich ist – wies die Anschuldigen zurück. Damit schien auch diese Sache aus der Welt. Doch diesmal klappte nicht, was bisher noch immer geklappt hatte. Die Journalistinnen fanden Unterstützung, und zwar nicht nur von den üblichen Verdächtigen, der liberalen Öffentlichkeit, NGOs und Feministinnen. So stellte sich die, wenn es um den Westen geht, meist zynische und erbarmungslose Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa auf ihre Seite. Sie sei einst ebenfalls von Sluzkij bedrängt worden, sagte sie öffentlich.

Kurze Zeit später verließ eine vierte Journalistin, Jekaterina Kotrikadse vom Auslandsfernsehsender RTVI, den Schutz der Anonymität. Sie beschuldigte Slutzkij, er habe sie bereits 2011 während eines Interviews in seinem Büro angefasst und versucht zu küssen. Sie habe sich damals losgemacht und sei fortgelaufen. Geschwiegen habe sie bisher, weil sie Schwierigkeiten befürchtet habe. Kotrikadse fügte hinzu, sie wisse, dass sexuelle Belästigung von Journalistinnen ein weit verbreitetes Phänomen in unterschiedlichen staatlichen und Regierungsinstitutionen sei, aber niemand es wage, den Mund aufzumachen. Der Chefredakteur von RTVI Alexej Piwowarow unterstützte seine Mitarbeiterin und forderte die anderen belästigten Journalistinnen auf, ihre Namen ebenfalls öffentlich zu machen.

Im Parlament selbst gab es fast ausschließlich Unterstützung für Sluzkij. Nur eine Abgeordnete, die prominente ehemalige Fernsehmoderatorin Oksana Puschkina, unterstützte ihre ehemaligen Kolleginnen nach den Anschuldigungen. Sie forderte, einen seit 2003 im zuständigen Parlamentsausschuss ruhenden Gesetzentwurf zu reaktivieren, mit dem, sollte er Gesetz werden, sexuelle Belästigung eine Straftat wird. Aber nur eine weitere von 450 Abgeordneten schloss sich dieser Forderung öffentlich an. Ein erst jüngst im Parlament eingerichteter „Frauenklub“ nannte die Vorwürfe der Journalistinnen gegen Slutzkij dagegen eine „gezielte Provokation“. Die Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Familie, Frauen und Kinder, Tamara Pletnjowa, bezweifelte ebenfalls die Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen und sagte, ganz im Geist des propagierten Andersseins: „Wir sind hier doch nicht in Amerika oder Europa. Warum sollen wir alles nachmachen? Eine Frau, die das nicht will, wird auch nicht belästigt.“ Der mächtige Parlamentssprecher Wjatscheslaw Wolodin, vormals stellvertretender Leiter für Innenpolitik der Präsidentenadministration, fragte die Journalistinnen öffentlich polemisch: „Es ist gefährlich in der Duma zu arbeiten? Dann wechselt doch den Arbeitsplatz.“

Drei der Journalistinnen, Jekaterina Kotrikadse, sowie Farida Rustamowa und Darja Schuk vom unabhängigen Internetsender „TV Rain“ und der Medienholding RBK, beschwerten sich schließlich beim ständigen Ethikausschuss des Parlaments. Der kam Ende März nach einer getrennten und nicht öffentlichen Anhörung erst mit den beiden Beschwerdeführerinnen und dann mit Sluzkij wenig überraschend zu dem Schluss, dass es an Slutzkijs Verhalten nichts zu rügen gebe. Daraufhin beschlossen die Redaktionen der belästigten Journalistinnen fortan die Duma-Berichterstattung zu boykottieren. Zahlreiche andere Redaktionen, vor allem Zeitungen und Internetmedien schlossen sich an. Im Gegenzug entzog der Pressedienst der Staatsduma den beteiligten Medien die Akkreditierung im Parlament.

Der Kreml hatte sich derweil öffentlich zurückgehalten. Erst recht spät wurden Äußerungen von Präsidentensprecher Dmitrij Peskow bei einem halböffentlichen Auftritt vor Studenten einer Moskauer Hochschule bekannt. Er verglich die russischen Journalistinnen mit den Schauspielerinnen, die über die Nachstellungen von Harvey Weinstein geklagt hatten. Diese hätten viel dafür getan, um „Stars zu werden“. Und weiter: „Es kann sein, dass Weinstein ein Dreckskerl ist, aber niemand ist ja zur Polizei gegangen und hat gesagt: Weinstein hat mich vergewaltigt. Nein. Sie wollten 10 Millionen Dollar verdienen. Wie heißt eine Frau, die für 10 Millionen Dollar mit einem Mann schläft? Kann es sein, dass man sie, grob gesagt, eine Prostituierte nennt?“ Diese Äußerung Peskows, der als enger Putinvertrauter als einer der einflussreichsten Männer in Russland gilt, illustriert gut und erschreckend das Niveau des herrschenden Geschlechterdiskurses in Russland.

Dass es sich aber auch in Russland schon um Abwehrgefechte handelt (wenn auch grobe und noch leicht zu gewinnende) zeigt ein Artikel von Wladislaw Surkow. Der ehemalige Chef-Spindoctor des Kremls zeichnete sich schon immer durch ein besonders feines Gespür für tektonische Verschiebungen und ebenso für die sich daraus ergebenden manipulativen Möglichkeiten aus. Selten ist klar, wieviel er von dem glaubt, was er sagt oder schreibt. Alles wirkt immer postmodern verspielt. Der Text, um den es mir hier geht, wurde schon vor dem, Sluzkij-Skandal veröffentlicht, ausgerechnet und sicher nicht zufällig am 14. Februar, dem Valentinstag. Er ist mit „Walentinka in purpurnen Tönen“ (<http://ruspioner.ru/honest/m/single/5725>) überschrieben und kann durchaus als Kommentar zur #MeToo-Debatte gelesen werden.

In seinem Artikel hebt Surkow die Geschlechterfrage auf eine grundsätzliche Ebene. Erst fragt er, ob sich irgendjemand überhaupt an Frauen erinnern könne, die Großes geschaffen hätten, natürlich nur, um die Frage gleich zu verneinen. Denn die Sphäre, in der Großes geschaffen wird, sei Männerdomäne. Warum, fragt Surkow weiter, würden dann „plötzlich Frauen in diese männliche Welt aufgenommen?“, um sogleich eine überraschende Antwort zu geben: Weil wir vor dem Untergang der abendländischen Welt stünden, wie wir sie kennen. Es gebe, so behauptet er (es geht in Russland anscheinend nicht ohne Oswald Spengler), „alle Anzeichen eines Untergangs Europas (besser: Euramerikas)“.

Der wachsende öffentliche weibliche Einfluss sei nämlich nicht der Grund für irgendetwas, sondern lediglich ein Symptom, eine „Manifestation der Dekadenz“. In politischen Systemen, so führt Surkow weiter aus, die sich nach wildem Wachstum erschöpften, sozusagen in ihre letzte Phase einträten, neigten die klügeren Männer dazu, Frauen an die Führung zu lassen. Sie überließen es dann diesen Frauen das untergehende System abzuwickeln, während sie, also „die klugen Männer“, keine Kraft mehr in eine verlorene Sache steckten, sondern schon mit „echten Männerdingen“ beschäftigt seien, nämlich damit, „eine neue Realität zu erfinden und zu konstruieren“.

Man könnte das als intellektuelle Jämmerlichkeit abtun, wenn ein Mann behauptet, dass eigentlich immer noch Männer führen, auch wenn Frauen an der Führung sind, wäre damit nicht ein wunder Punkt bei vielen russischen Männern getroffen. Die große Verunsicherung darüber, was heute einen Mann ausmacht, trifft sie mindestens ebenso unvorbereitet wie ihre westlichen Geschlechtsgenossen vor 50 Jahren. Auf diese Verunsicherung legt sich aber zusätzlich noch das Leiden am Abstieg des eigenen Landes von der Weltmacht zu etwas, das noch nicht ganz ausgemacht, aber ganz sicher weniger groß, weniger prächtig und weniger mächtig ist. Mit diesen Sentimenten spielt Surkow, egal ob er den Unsinn seines Textes nun selbst glaubt oder nicht. Viele andere Männer (und auch einige Frauen) meinen das in Russland aber sehr ernst, mitunter todernst. Doch aufzuhalten dürfte #MeToo (und überhaupt die Veränderung der Geschlechterverhältnisse) auch in Russland trotzdem nicht sein.

Vorige Woche wurde bekannt, dass sich eine russische Nachwuchsbiathletin über die sexuelle Nötigung ihres Trainers beschwert hatte. Noch bevor der Skandal öffentlich wurde, war der Mann gefeuert. #MeToo wirkt – auch in Russland.