Putinhysterie

„Der Untergang des Abendlandes? 

Grad war’s noch da – und dann verschwand es“

F.W. Bernstein

Das Böse existiert und es heißt Putin. Diesen Eindruck vermittelt seit einiger Zeit ein nicht unerheblicher Teil der medialen Öffentlichkeit im sogenannten Westen (mit Westen werden hier, ein wenig vereinfachend, die liberal verfassten marktwirtschaftlichen Demokratien mit den USA und der EU als historisches Zentrum bezeichnet). Mitunter komme ich mir heute beim Zeitungslesen und Nachrichtenschauen wie ein Zeitreisender vor, der wieder in der Mitte der 1980er Jahre gelandet ist, als Roland Reagan die Sowjetunion zum „Reich des Bösen“ erklärte und das Star-Wars-Aufrüstungsprogramm erfand. Allerdings gibt es einen gewaltigen Unterschied. Die damalige Sowjetunion war tatsächlich (vor allem militärisch) sehr mächtig (kaum jemandem schien ihr baldiges Ende, von dem wir heute wissen, möglich), sehr viel mächtiger als das heutige Russland. Und es gab den Kalten Krieg, die weltweite Konkurrenz zweier ideologisch konkurrierender Gesellschaftssysteme.

Nun meinen viele im Westen, dass wir uns heute in einem neuen Kalten Krieg (oder in seiner modernisierten Variante, einem hybriden Krieg) mit Russland befinden. Auf fast schon wundersame Weise haben Russland und der NATO-Westen binnen weniger Jahre die Rollen getauscht. Noch bis vor Kurzem galt der Westen als stark, während von russischer Seite immer wieder die Klage vorgebracht wurde, „durch die NATO eingekreist“ worden zu sein. Wobei der Westen die „legitimen russischen Sicherheitsinteressen“ missachte, indem er mit seinen Organisationen (NATO, EU) immer näher an die russischen Grenzen rücke, kurz: Russland sei durch den Westen bedroht. Doch inzwischen sind aus Russland immer selbstbewusstere Töne zu hören, während sich dagegen im Westen Stimmen häufen, Russland wolle die dortigen Gesellschaften unterminieren, ja führe gar einen verdeckten (eben jenen hybriden) Krieg nicht nur gegen westliche Länder, sondern gegen das Konzept einer demokratischen, offenen Gesellschaft insgesamt.

Diese Umkehrung begann, anfangs fast unmerklich, irgendwann nach der vielzitierten Münchner Rede Wladimir Putins auf der Sicherheitskonferenz vor zehn Jahren. Ihre Entwicklungsrichtung wurde mit der Annexion der Krim durch Russland und dem von Russland initiierten (bewusst nachlässig verdeckt mitgeführten) Krieg in der Ostukraine einer breiteren Öffentlichkeit bewusst. Gleichzeitig begann man in Russland, aber auch im Westen, immer öfter von einer Schwäche des Westens zu sprechen, einer Schwäche, die wie ein historisches Naturereignis über kurz oder lang zum Untergang des Westens (und seines demokratischen, auf Recht basierenden politischen Modells) und zum Aufstieg einer neuen, von Russland an führender Stelle mitgestalteten Welt- und Gesellschaftsordnung führen würde.

Im Sommer 2015 griffen russische Militäreinheiten in den (Bürger-)Krieg in Syrien ein, ohne dass die USA und ihre Verbündeten etwas dagegen taten (tun konnten?) und die Rede von der Schwäche des Westens wurde noch lauter. Endgültig zu einem vorherrschenden Trend aber wurde sie im vorigen Jahr in der Folge des Brexit-Votums und vor allem durch den Wahlsieg von Donald Trump in den USA. Die US-Historikerin Anne Applebaum (und nicht nur sie) extrapoliert diese Entwicklung in die nahe Zukunft und sieht nach drei weiteren Schicksalswahlen in den Niederlanden, in Frankreich und im September in Deutschland, die Gefahr, dass der Westen wie Dominosteine fallen könnte. 

Ein paar weitere Kostproben dieser fast schon an Hysterie grenzenden Russlandangst. Die New York Times und die Washington Post, die dicken Flaggschiffe der offenen Gesellschaft, werden seit Monaten nicht müde uns zu erklären, dass Trump seinen Sieg Putin, dessen Hackern und dessen Geheimdiensten zu verdanken habe. Die Monatszeitschrift New Yorker, das Blatt für liberale Intellektuelle, zeigt auf dem Titelbild seiner Märzausgabe Wladimir Putin mit Monokel und einem rosa Schmetterling als „Eustace Vladimirovich Tilley“ (Eustace Tilley ist eine Kunstfigur, die das allererste Titelbild des New Yorkers vor 80 Jahren zierte). Im Blatt wird, wie Brendan O’Neill im britischen Spectator zusammenfasst: „… a future, dystopian America that’s been captured by the Evil Empire“ gezeichnet. Trump wird „Putin’s puppet“ genannt und ein „unwissentlicher Agent“ Moskaus.

Vanity Fair, Fachblatt für the Lives and the Looks, geht noch einen Schritt weiter und stellt gleich die Frage: „Is Trump a Manchurian Candidate?“. Die USA seien dabei, von Putin einfach übernommen zu werden, ist die Botschaft. Im vorigen Dezember zeigte eine You-Gov-Umfrage, dass die Hälfte der US-Amerikaner glauben, „Russland habe an der Stimmenauszählung gedreht“. Mitunter scheint es, als ob Putin mittlerweile für alles haftbar gemacht wird, was nicht den in den vergangenen Jahrzehnten im Westen üblich gewordenen liberalen, weltoffenen Weg geht. 

Nun könnte der Trump-Schock im demokratischen Teil der USA durchaus so tief sitzen, dass derartige Übertreibungen verständlich werden. Doch auch in anderen westlichen Ländern, darunter Deutschland, breitet sich die Panik aus. So versah Die Zeit, Leitblatt des liberalen Bürgertums, ihr Titelblatt am 23. Februar dieses Jahres mit dem Reichstag im Fadenkreuz und der großen Frage „Deutschland im Visier?“ Unterzeile: „Sind die Großangriffe aus dem Netz von Russland gesteuert.“ Wird der nächste Bundeskanzler oder die nächste Bundeskanzlerin in Moskau ausgesucht, möchte man gleich unwillkürlich nachfragen.

In der Tageszeitung Die Welt warnt nicht nur Richard Herzinger seit Monaten vor dem bevorstehenden Ende des Westens – mit Putin als Haupttotengräber. Vorige Woche nahm sich Herzinger die sogenannten Fake News vor: „Der Postmodernismus hat uns gelehrt, dass die Medien nicht mehr als Abbild der Wirklichkeit, sondern als selbstreferenzielles System zu betrachten seien, das seine eigene Realität erzeuge. Alles, was in den Medien erscheint, ist demnach an sich irgendwie Fake. Und wir sind angehalten, es nicht so ernst zu nehmen.“ Anders ausgedrückt, gibt es keine unerschütterlichen Wahrheiten mehr, was es umso schwieriger macht, sich gesellschaftlich darauf zu verständigen, was als Fakten (also altertümlich ausgedrückt als Wahrheit) akzeptiert wird und was nicht. Mit der systematischen und gezielten Verbreitung von Unwahrheiten (der Begriff „falsche Fakten“, jüngst berühmt geworden in der Variante „alternative Fakten“ wäre ja ein Widerspruch in sich), also der heute meist so genannten Fake News durch antidemokratische Kräfte, werden diese zu einer politischen Gefahr. Herzinger weiter: „Es ist die [Differenz] zwischen den Versuchen zur Manipulation der Wahrheit durch Mächtige in einer Demokratie, die von einer freien Öffentlichkeit kontrolliert werden, und den Desinformationstechniken autoritärer Regime oder antidemokratischer Bewegungen, deren Ziel es ist, die Kriterien zur Unterscheidung von Wahrheit und Lüge an sich zu zerstören.“.

Natürlich hat Herzinger nur allzu Recht. Das alles ist sehr ernst. Russland führt in der Ukraine (also mitten in Europa) Krieg und hat mit der Annexion der Krim die Nachkriegsfriedensordnung auf dem Kontinent praktisch ausgehebelt. Keiner der russischen Nachbarstaaten kann sich seiner Grenzen mehr sicher sein. Der russische Staat versucht zudem ja tatsächlich auf vielfältige Weise, auf die politischen Prozesse im Westen Einfluss zu nehmen. Die Mittel reichen von den oben geschilderten Fake-News über mit russischem (Regierungs-)Geld in westlichen Ländern aufgebauten Massenmedien (wie RT oder der sogenannten Nachrichtenagentur Sputnik) über Kooperation mit und die gezielte, auch finanzielle Förderung von politischen Parteien und einzelnen Politikern in der EU (und vielleicht auch in den USA) bis zu Internettrollfabriken für die sozialen Medien. Hinzu kommen (soweit wir das wissen können) Geheimdienstoperationen wohl einschließlich gezielter Hackerangriffe wie der auf die Demokratische Partei in den USA oder den Bundestag. Auch das Wirken von Wikileaks macht zunehmend den Eindruck, wenn schon nicht direkt zum Kreml-Arsenal zu gehören, so doch sehr eng mit ihm verbunden zu sein. 

Noch einmal: Das ist alles sehr ernst. Die Lage des Westens ist angesichts von Brexit, Trump, einer drohenden französischen Präsidentin Marine Le Pen und stärker werden rechts- und mitunter auch linkspopulistischen Bewegungen in vielen westlichen Ländern tatsächlich kritisch. In kritischen Lagen aber gibt es zwei Fehler, die man möglichst vermeiden sollte: Panik und Schönfärberei. Die Zeit der Schönfärberei ist glücklicherweise weitgehend vorbei.  Die anhaltenden Sanktionen gegen Russland wegen Krimannexion und Krieg in der Ostukraine zeigen, dass viele im Westen begriffen haben, dass es, um es salopp auszudrücken, um die Wirst geht. Bleibt also, Panik zu vermeiden (wobei mitunter der Verdacht angebracht scheint, dass Schönfärberei aus Angst entspringt).

Russland und Putin sind ein wichtiger und auch einflussreicher Faktor in der internationalen Politik. Und da nationale und internationale Politik immer stärker miteinander verschränkt sind (das ist eine wichtige Folge der vom Westen ausgehenden Versuche einer Verrechtlichung auch internationaler Beziehungen), erstreckt sich dieser Einfluss auch auf andere Länder. Doch das ist keine Einbahnstraße. Der westliche Einfluss in Russland und auf die russische Politik ist nicht kleiner. Insgesamt sind die Möglichkeiten, von außen die Politik eines Landes zu beeinflussen aber grundsätzlich beschränkt. Ich hatte die Möglichkeit, in den vergangenen 25 Jahren westliche Unterstützung für eine demokratische Entwicklung in Russland nicht nur zu beobachten, sondern als Leiter des Moskauer Büros der Heinrich Böll-Stiftung lange Zeit aktiv mitzugestalten. Diese Erfahrung hat mich bescheiden gemacht. Möglich ist die Unterstützung von Trends in den jeweiligen Gesellschaften. Das Setzen von Trends von außen ist schlicht unmöglich. Dass die russische Führung das anders sieht und in einer Art Verfolgungswahn schon seit vielen Jahren an allen Ecken und Enden vom Westen angezettelte Revolutionen wittert, ist kein Gegenbeweis.   

Russland ist unter Putin wieder stärker und (wenn man das so sagen darf) selbstbewusster geworden, aber es bei weitem nicht so stark wie es die Sowjetunion einst gewesen ist. Die gegenwärtige Hysterie (ja, ich finde dieses starke Wort hier angemessen) in Bezug auf russische Einmischung in das, was man früher die inneren Angelegenheiten genannt hat, zeugt aber mehr von der eigenen Schwäche als von Russlands Stärke. Oder sie zeugt, genauer gesagt, eher von der eigenen Verunsicherung. Damit einher geht eine zunehmende Tendenz zur Selbstviktimisierung. Putin wird, ob nun aus Scham oder aus Angst, aus Verunsicherung oder aus Kalkül, oder weil es einfach nur nicht sein kann, dass Trump und Co unsere Ungeheuer sind, zu einem fast allmächtigen Giganten aufgeblasen. Er kann sicher viel. Aber bei weitem nicht alles, was ihm nun zugeschrieben wird. Es ist geradezu eines der Grundmerkmale Putinscher Politik, oberhalb der eigenen Gewichtsklasse zu boxen. Putins Politik ist, wenn überhaupt, nicht der Grund, sondern ein Symptom der Krise des liberal-demokratischen Gesellschaftsmodells des Westens. Wenn man ein Vakuum entstehen lässt, dann kommt jemand und füllt es.

Auch aus diesem Grund betrachte ich die Diskussion in Deutschland/den USA/im Westen über eine angebliche russische Megastrategie zu seiner Zerstörung mit Skepsis. Nicht, weil ich davon überzeugt wäre, dass dieses Kalkül nicht dahinter stünde. Es weist zu vieles darauf hin, dass es vielleicht keine Strategie zur Zerstörung, wohl aber den Wunsch und die vielfältige Praxis zur nachhaltigen Schwächung dessen gibt, was in Russland abgrenzend die westliche Weltordnung genannt wird. Meine Skepsis bei der Annahme eines lang durchdachten, kühl-rational, mit viel Wissen und Können durchgeführten Plans bezieht sich vor allem auf die darauf folgenden Reaktionen: die Dämonisierung Putins auf der einen und die Übernahme des russischen Narrativs eines hybriden Kriegs. Es ist nachgerade dieses Narrativ, dass uns die russische Sichtweise einer hobbesschen oder darwinschen Welt aufzwingen will, in der jeder gegen jeden um das Überleben kämpft. Unter die Räder geraten damit immer wieder sowohl demokratische Grundsätze als auch die zivilisatorische Errungenschaft der Unterscheidung zwischen Krieg und Politik. Clausewitz mag immer noch lesenswert sein. Seine politische Philosophie aus dem 19. Jahrhundert erneut zu übernehmen, wird die Welt weder sicherer noch lebenswerter machen.