Agenten

Dieser Text ist eine überarbeitete und erheblich erweiterte Version des Post „Memorial International und das Agentensein“ vom 9. Oktober und in den aktuellen Russland-Analysen erschienen.

Anfang September und Anfang Oktober sind mit dem „Lewada-Zentrum“ und „Memorial International“ zwei der (auch und insbesondere international) angesehensten NGOs in Russland vom russischen Justizministerium zu „ausländischen Agenten“ erklärt worden. Sie sind die Nummern 141 und 145 auf der immer länger werdenden „Agentenliste“. Vor allem wegen der großen politischen Bedeutung von „Lewada-Zentrum“ und „Memorial“ als Leuchttürme auf dem immer kleiner werdenden Archipel russischer Freiheit (dieses bisschen Pathos sei hier erlaubt) kam sofort die Vermutung auf, wir hätten es hier mit einer neuen, mutmaßlich vom Kreml (wem sonst?) initiierten Kampagne gegen unabhängige russische NGOs zu tun. Ich glaube das nicht. Das ist keine neue Kampagne. Das bleibt die immer gleiche alte Kampagne.

Wie die sogenannten „Agentenparagraphen“ des NGO-Gesetzes den Druck auf russische NGOs seit 2012 enorm gesteigert haben, welche Risiken sich daraus für die NGOs ergeben und welche unterschiedlichen Strategien sie gegen diese staatlichen Pressionen gewählt haben (und es ihnen dabei trotzdem gelungen ist, untereinander loyal zu bleiben, ja diese Loyalität auf eine neue qualitative Ebene zu heben) hat Darja Skibo vom St. Petersburger Zentrum für Unabhängige Sozialforschung in den Russlandanalysen akribisch und systematisch dargelegt. Ich will heute in meinen Notizen diese Darstellung am Beispiel Memorials illustrieren und dabei auch – unter anderem mit Blick auf die Begründung des Justizministeriums, warum Memorial International ein „ausländischer Agent“ sei – auf die ausschließlich politische Motivation der ganzen „Agenten“-Geschichte eingehen.

Was bedeutet es für die weitere Arbeit von Memorial, dass die Organisation aus Sicht des russischen Staates ein „ausländischer Agent“ ist? Zuerst einmal wird Memorial International weitermachen, als wäre nichts geschehen. Jelena Schemkowa, Vorstandsmitglied und Geschäftsführerin von Memorial International, drückt das so aus: „Wir arbeiten weiter, weil die Menschen unsere Arbeit brauchen. Und solange unsere Arbeit gebraucht wird, arbeiten wir weiter.“ Aber ist hier nicht der Wunsch Vater des Gedankens? Geht das überhaupt als „ausländischer Agent“? Dass das prinzipiell, wenn auch unter besonderen Schwierigkeiten, möglich ist, hat Darja Skibo aufgezeigt. Um zu verstehen, wie das im konkreten Fall von Memorial aussehen könnte, ist zuerst ein Blick auf die besondere und, zugegeben, ein wenig komplizierte Struktur des Memorial-Netzwerks nötig.

Ich habe diese Netzwerkstruktur vor zwei Jahren bereits einmal ausführlich in diesem Blog beschrieben. Deshalb sei hier heute nur kurz erwähnt, dass Memorial International der große, alle anderen der mehr als 60 Memorial-Organisationen einschließende Dachverband ist. Fast alle Mitgliedsorganisationen arbeiten sowohl selbstständig als auch im Netzwerk. Die meisten, wenn auch nicht alle (das wird weiter unten noch einmal wichtig), sind juristisch selbstständig. Fünf von ihnen (das „Menschenrechtszentrum „Memorial‘ “, die Flüchtlingshilfsorganisation „Bürgerunterstützung“, „Memorial St. Petersburg“, „Memorial Rjasan“, „Memorial Jekaterinburg“, das Gulag-Museum „Perm-36“) hat das „Agenten“-Schicksal schon früher getroffen. Bis heute arbeiten aber alle bis auf „Perm-36“ weiter. Perm-36 ist allerdings ein Sonderfall. Die Auflösung erfolgte nicht in erster Linie wegen des „Agenten“-Status, sondern weil der Staat das namengebende Gulag-Museum im Gebiet Perm auf dem Gelände eines ehemaligen Straflagers schon 2015 feindlich übernommen hat.

Was bedeutet die Registrierung von Memorial International als „Agent“ konkret? Zuerst: Das NGO-Gesetz verbietet „Agenten“ nicht die Weiterarbeit. Es legt den so titulierten NGOs gegenüber anderen NGOs allerdings erhebliche zusätzliche Berichtspflichten auf, die enorm viel Arbeit kosten und Ressourcen binden, und es gibt den Behörden, insbesondere der Staatsanwaltschaft und dem Justizministerium, zusätzliche, auch außerordentliche Prüfrechte. Vor allem aber enthält das Gesetz die Verpflichtung, alle Veröffentlichungen und öffentlichen Auftritte mit dem Label „ausländischer Agent“ zu versehen. Die meisten der zu „Agenten“ erklärten NGOs halten das für entwürdigend. Das Label hat aber auch ganz praktische Nachteile. Wie eine von NGOs in Auftrag gegebene Umfrage des Lewada-Zentrums von 2013 ergab, verbinden rund 80 Prozent der Menschen im Land mit dem Wort „Agent“ Begriffe wie „Spion“, „Feind“ und „Verräter“. In den Augen einer Mehrheit der Menschen in Russland kann man es also durchaus ein Kainsmal nennen. Hinzu kommt, dass die meisten Behörden mit „Agenten“ nicht zusammenarbeiten. Wohlmeinende Beamte (die es durchaus gibt) müssen befürchten, dass sich eine Zusammenarbeit in der gegenwärtigen politischen Lage negativ auf sie und ihre Karriere auswirken könnte; und sie verhalten sich entsprechend zurückhaltend und vorsichtig.

Viele als „Agenten“ registrierte NGOs ignorieren bisher einfach die Pflicht, sich öffentlich entsprechend kenntlich zu machen. Bei einigen geht das bisher gut. Gegen zahlreiche andere hat das Justizministerium deswegen aber bereits hohe Bußgelder verhängt. Beschwerden vor Gericht gegen diese Bußgelder werden regelmäßig abgewiesen. Das ist nicht nur teuer, sondern kann im Wiederholungsfall gefährlich werden. Laut Gesetz hat das Ministerium bei „mutwilliger Gesetzesverletzung“ (und es ist durchaus üblich, dass Gerichte bereits eine zweifache Gesetzesübertretung als „mutwillig“ ansehen) die Möglichkeit, vor Gericht sowohl die zwangsweise Auflösung einer NGO zu beantragen, als auch eine bis zu zwei Jahre lange Haftstrafe gegen deren leitende Personen.

Bisher gibt es mit dem Verfahren gegen Walentina Tscherewatenko, Gründerin und Leiterin der südrussischen „Frauen des Don“, zwar nur ein solches Strafverfahren gegen NGO-Leitungen. Dieses Verfahren wurde zudem nicht wegen der Nichtbeachtung der Pflicht zur Selbstbezeichnung als „Agent“ eingeleitet, sondern weil Walentina Tscherewatenko es nach Meinung der Staatsanwaltschaft zweimal, bei zwei verschiedenen NGOs, versäumt habe, ihre Organisationen auf eigene Initiative als „Agenten“ registrieren zu lassen. Diese Pflicht sieht das Gesetz tatsächlich vor, wenn eine NGO die dort genannten Kriterien für eine „Agententätigkeit“ erfüllt (Geld aus dem Ausland und „politische Tätigkeit“). Walentina Tscherewatenko bestreitet aber, mit ihren NGOs „politisch“ tätig zu sein und klagt gegen diese Einordnung vor Gericht, wenn auch bisher erfolglos.

Die Pflicht, sich als registrierter „Agent“ auch öffentlich so zu bezeichnen, lässt sich also ignorieren, aber unter einem erheblichen, vor allem aber wachsenden Risiko. Zahlreiche NGOs sind daher inzwischen zu einem anderen Umgang mit dem Gesetz übergegangen. Sie weisen öffentlich darauf hin, dass sie vom Staat formal zu „Agenten“ erklärt wurden, betonen aber gleichzeitig, dass sie mit diesem Label nicht einverstanden sind und in den meisten Fällen, dass sie es für rechtswidrig halten.

Swetlana Gannuschkina, Gründerin und Leiterin der Flüchtlingshilfsorganisation „Bürgerunterstützung“, die vor kurzen den „Right Livelihood Award“ zugesprochen bekommen hat, schreibt zum Beispiel ganz unten und ganz klein auf der Website ihrer Organisation, dass das Justizministerium sie in das Register für „ausländische Agenten“ eingetragen habe. Und weiter: „Nun denn, wir sind wirklich Agenten – eben dieser Ausländer.“ Gemeint sind die Menschen, die Flüchtlinge, denen sie und ihre Mitarbeiter helfen.

Memorial International denkt darüber nach, vorerst den Text einer Erklärung auf der Eingangsseite seines Internetauftritts stehen zu lassen. Darin heißt es: „Wir haben wir erfahren, dass das Justizministerium die Entscheidung getroffen hat, Memorial International in das Register von ‚Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen‘, aufzunehmen. Wir halten diese Entscheidung für rechtswidrig und werden gegen sie vor den Gerichten vorgehen“. Allerdings ist das innerhalb der Organisation durchaus umstritten. Nicht wenige Memorialmitarbeiter halten bereits diesen aus praktischen und Selbstschutzgründen entstandenen Kompromiss für die implizite Anerkennung des aus ihrer Sicht rechtswidrigen Gesetzes. Ein Schritt, vom dem sie glauben, er würde die eigene politische Stellung schwächen.

Auch für die aktuelle Arbeit von Memorial International wird die Einstufung als „Agent“ wohl nicht ohne praktische Folgen bleiben. Die historische Forschungsarbeit zur politischen Repression in der Sowjetunion, das Archiv und die Bibliothek sollen weitergeführt werden und weiterhin offen bleiben. Allerdings dürfte das „Agenten“-Label die bisher meist gute Zusammenarbeit mit den (in den allermeisten Fällen) staatlichen Archiven erheblich erschweren und in manchen Fällen unmöglich machen. Besondere Sorge macht sich Memorial um eines seiner schönsten und erfolgreichsten Projekte, den seit 15 Jahren alljährlich stattfindenden Schülergeschichtswettbewerb „Der Mensch in der Geschichte – Russland im 20. Jahrhundert“. Über 30.000 Arbeiten, meist zur Mikro-, Regional und Lokalgeschichte staatlicher Repression, sind so über die Jahre zusammengekommen. Für die vielen Lehrer und Schulen im ganzen Land, die mit Memorial zusammenarbeiten und ohne die der Wettbewerb nicht funktionieren kann, wird der Druck vom Staat und seinen Medien (und das sind fast alle) sehr groß werden. Schon früher gab es immer mal wieder Versuche von Schulbehörden, diese Zusammenarbeit zu behindern. Bisher ließen sich solche Versuche auch wegen des sehr guten Ansehens des Wettbewerbs (übrigens bis in die Präsidentenadministration hinein) abwehren. Das wird viel schwieriger, vielleicht unmöglich werden.

Zu den direkt aus dem „Agentengesetz“ herrührenden Schwierigkeiten kommen noch die zunehmenden und staatlich systematisch geförderten Denunziationen hinzu. Seit dem Vorjahr gibt es ein Gesetz, das Behörden verpflichtet, jeder Denunziation nachzugehen. In Bezug auf NGOs führt das dazu, dass es für das Justizministerium und die Staatsanwaltschaft inzwischen weit einfacher ist, einer Beschwerde, diese oder jene NGO sei „Agent“, lasse sich aber nicht registrieren, stattzugeben, als sie zurückzuweisen. Im Fall von Memorial International hat eine solche Anzeige einer Aktivistin aus einer Gruppe, die sich „Nationale Befreiungsbewegung“ (NOD) nennt und gegen „Volksfeinde“ kämpft, die „Prüfung“ des Justizministeriums ausgelöst, die dann Anfang Oktober zum Eintrag im „Agentenregister“ geführt hat.    

NOD-Aktivisten hatten bereits Ende April die Preisverleihung des Schülergeschichtswettbewerbs gestört, indem sie Jurymitglieder und Organisatoren vor dem Eingang des Theaters, in dem die Zeremonie stattfand, auflauerten und mit einem grünen Desinfektionsmittel bespritzten. Solche Aktionen werden nicht selten mit der Polizei abgesprochen oder von ihr toleriert. So scheint es auch im Frühjahr gewesen zu sein. Jedenfalls kam die sofort alarmierte Polizei erst, als die NOD-Leute bereits wieder weg waren und nahm die Anzeigen gegen sie ohne besonderen Enthusiasmus auf. Wenige Tage vor Bekanntwerden des „Prüfungsergebnisses“ hat dieselbe Frau, die die Denunziation gegen Memorial geschrieben hat, auf der NOD-Website einen sehr kenntnisreichen Artikel veröffentlicht, warum Memorial International unbedingt als „Agent“ zu registrieren sei. Es ist nicht ganz klar, ob es sich dabei um eigene Recherche handelt oder diese Leute Zuträger aus dem Staatsapparat haben.

Nun noch ein paar Worte dazu, wie das Justizministerium seine Entscheidung, Memorial International zum „ausländischen Agenten“ zu erklären, begründet hat. Konkret werden Memorial International zwei Sorten von Handlungen oder besser gesagt öffentlichen Äußerungen zum Vorwurf gemacht. Da sind zum einen politische Erklärungen und zum anderen öffentliche Meinungsäußerungen von Vorstandsmitgliedern. Die inkriminierten öffentlichen Erklärungen stammen aus den Jahren 2013 bis 2015 und betreffen das „Agentengesetz“ selbst, die Einstufung des Menschenrechtszentrums Memorial und des „Sacharow-Zentrums“ als „Agenten“, die Einordnung der Annexion der Krim durch Russland als „Aggression“ und die Verantwortlichmachung des Staates für den Mord an Boris Nemzow. Überall hier, ebenso wie in den aufgeführten Äußerungen von Memorial-Vorstandsmitgliedern, geht es um Kritik an staatlichem Handeln. Das wird vom Justizministerium im Sinne des Gesetzes als „politische Tätigkeit“ bewertet und führt im Zusammenhang mit ausländischer Finanzierung zum „Agentenstatus“. Auffallend ist, dass als „politisch“ nur Kritik am staatlichen Handeln bewertet wird. Öffentliche Unterstützung der staatlichen Politik dagegen bleibt auch bei jenen NGOs ohne Folgen, die Geld aus dem Ausland erhalten.

Wie geht es nun weiter? Memorial wird, wie viele andere NGOs in der gleichen Lage zuvor, als erstes beim Justizministerium Beschwerde gegen die Entscheidung des Justizministeriums einlegen. Sobald diese Beschwerde abgelehnt ist (was fast immer geschieht und wovon deshalb auch bei Memorial auszugehen ist) wird Memorial vor Gericht klagen. Besonders am Fall Memorial International ist, dass sich die Organisation bei ihrer Argumentation, weshalb sie die Entscheidung des Justizministeriums als rechtswidrig ansieht, nicht nur gegen das Gesetz insgesamt richtet (eine Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg von 11 russischen NGOs vom Januar 2013 ist dort angenommen, aber noch nicht verhandelt), sondern sich zusätzlich auf einen Spruch des russischen Verfassungsgerichts vom Frühjahr 2014 stützen kann. Seinerzeit hatte das Gericht eine Verfassungsbeschwerde einer Gruppe NGOs (darunter auch Memorial) gegen die NGO-„Agentenparagraphen“ insgesamt als unbegründet verworfen, aber in zwei Sätzen „internationale Organisationen“ ausdrücklich davon ausgenommen, als „Agenten“ eingestuft werden zu können. Die „Agentenparagraphen“ beziehen sich ausdrücklich nur auf russische NGOs (es ist ein weit verbreiteter Irrtum, auch ausländische NGOs oder deren Vertretungen könnten zu „Agenten“ erklärt werden) und Memorial International ist als russische NGO mit dem besonderen, im NGO-Gesetz vorgesehenen Status einer „internationalen Organisation“ beim Justizministerium registriert. Dieser Status wurde erst 2014 bei einer vom Justizministerium angeordneten Umregistrierung bestätigt. Dazu gründete Memorial extra zwei Filialen im Ausland (im ukrainischen Charkiw und in Prag), weil das Ministerium die seit langem bestehenden, aber juristisch eigenständigen Memorial-Mitgliedsorganisationen außerhalb Russlands (wie z.B. die Charkiwer Menschenrechtsgruppe oder „Memorial Deutschland“ in Berlin) für den Status als „internationale Organisation“ als nicht ausreichend betrachtete.

Nun werden Gerichtsverfahren in solch hochpolitischen Fällen wie dem hier geschilderten in Russland bekanntermaßen auch politisch und nicht rechtlich entschieden. Doch Russland ist ein legalistischer Staat. Dieser Passus der Verfassungsgerichtsentscheidung würde der politischen Führung immerhin einen guten und gesichtswahrenden Grund geben, ein Gericht entscheiden zu lassen, dass das Justizministerium hier einen Fehler gemacht hat. Eine Chance, wenn auch eine sehr kleine. Wie oben schon geschrieben, liegt das Vorgehen gegen Memorial zwar in der Logik der immer repressiveren staatlichen Politik gegenüber unabhängigen NGOs, wie sie nicht zuletzt in den „Agentenparagraphen“ kodifiziert ist. Aber auch politisch opportune Korrekturen innerhalb solcher Entwicklungslogiken sind durchaus ein Merkmal des gegenwärtigen politischen System Russlands. Doch selbst, wenn es irgendwann  (und das kann lange dauern) eine Entscheidung zugunsten von Memorial geben sollte, gilt die Organisation vorerst und bis dahin als „Agent“ und muss sich öffentlich auch so nennen. Tut sie das nicht oder nach Meinung des Justizministeriums unzureichend, dürften Geldstrafen folgen. Wie die Erfahrung bei anderen NGOs zeigt, ist ohnehin in Kürze eine hohe Geldstrafe wahrscheinlich, weil sich Memorial International nicht, wie es das Gesetz fordert, von selbst um einen Eintrag ins „Agentenregister“ bemüht hat.