Was eigentlich schon an dem Tag Anfang September klar war, an dem gleichzeitig das Lewada-Zentrum vom russischen Justizministerium zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde und das gleiche Ministerium eine „Prüfung“ bei Memorial International begann, ob sie nicht auch „Agenten“ seien, ist seit einer Woche amtlich: Memorial International, älteste und engste Partnerin der Heinrich Böll Stiftung in Russland, ist die Nummer 145 auf der seit nun zwei Jahren durchaus langsam, dafür aber sehr stetig wachsenden „Agenten“-Liste.
Trotz der Hoffnungen, die wir alle hatten, war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Reihe auch an Memorial International war. Wie es wohl auch nur eine Frage der Zeit ist, bis sich zu schlechter Letzt alle unabhängigen russischen NGOs auf dieser beschämenden „Agenten“-Liste wiederfinden, die es sich heraus nehmen selbst zu bestimmen, von wo und von wem sie Geld für ihre Arbeit (ihre Arbeit) annehmen,.
Was heißt das nun für die weitere Arbeit von Memorial? Zuerst einmal wird Memorial International weiter arbeiten als wäre nichts passiert. Oder wie Jelena Schemkowa, Vorstandsmitglied und Geschäftsführerin von Memorial International das ausdrückt: „Wir arbeiten weiter, weil die Menschen unsere Arbeit brauchen. Und solange unsere Arbeit gebraucht wird, arbeiten wir weiter.“ Aber ist hier nicht der Wunsch der Vater des Gedanke? Geht das überhaupt als „ausländischer Agent? Um diese Frage zu beantworten sind zwei Blicke nötig. Einer auf die Erfahrungen der vielen anderen russischen NGOs, die schon länger „Agenten“ sind. Und einer auf die besondere Struktur von Memorial.
Die meisten NGOs, die vom Justizministerium bereits vor längerer Zeit zu „Agenten“ gemacht wurden, arbeiten immer noch. Häufig nicht mehr im früheren Umfang, weil sie auf ausländisches Geld verzichtet haben, um das „Agenten“-Label wieder loszuwerden. Andere arbeiten (auch) mit ausländischem Geld weiter und das oft (fast) wie früher. Einige NGOs haben ihren Status als juristische Person aufgegeben, verzichten also ganz auf Finanzierung, sowohl ausländische als auch inländische. Andere, aber das sind nicht sehr viele, haben sich tatsächlich aufgelöst und ihre Arbeit in der bisherigen Form eingestellt. Es gibt also viele Möglichkeiten weiter zu machen, trotz der staatlichen Repression. Die Sache ist, zumindest bisher, nicht hoffnungslos. Memorial International wird es versuchen.
Nun zur Struktur von Memorial. Eine Besonderheit ist der Netzwerkcharakter. Ich habe das vor zwei Jahren bereits einmal ausführlich hier in diesem Russlandblog beschrieben. Heute sei nur kurz erwähnt, dass Memorial International der große, alle anderen der mehr als 60 Memorial-Organisationen einschließende Dachverband ist. Fast alle Mitgliedsorganisationen arbeiten sowohl selbstständig als auch im Netzwerk. Fünf von ihnen (das Menschenrechtszentrum Memorial, die Flüchtlingshilfsorganisation „Bürgerunterstützung“, Memorial St. Petersburg, Memorial Rjasan, Memorial Ekaterinburg, das Gulag-Museum Perm-36) hat das „Agenten“-Schicksal schon früher getroffen. Bisher arbeiten alle bis auf Perm-36 weiter. Perm-36 ist ein Sonderfall, weil hier die Repression vor allem durch die feindliche staatliche Übernahme des Gulag-Museums erfolgt ist.
Was bedeutet die Registrierung von Memorial International als „Agent“ konkret? Zuerst: Das NGO-Gesetz verbietet „Agenten“ nicht die Weiterarbeit. Es legt den so behandelten NGOs „nur“ die Verpflichtung auf, alle Veröffentlichungen und öffentlichen Auftritte mit dem Label „ausländischer Agent“ zu versehen. Das ist würdelos für die NGOs, vor allem aber in den Augen der meisten Menschen in Russland und vor allem aller Behörden wie ein Kainsmal. Einer von NGOs in Auftrag gegeben Umfrage des Lewada-Zentrums von 2013 zufolge verbinden rund 80 Prozent der Menschen im Land mit dem „Agentenlabel“ Begriffe wie „Spion“, „Feind“ und „Verräter“.
Die aktuellen „Agenten“ haben aber vielfältige Möglichkeiten gefunden, mit dieser gesetzlichen (wenn auch aus ihrer Sicht rechtswidrigen) Verpflichtung umzugehen. Swetlana Gannuschkina, Gründerin und Leiterin der Flüchtlingshilfsorganisation „Bürgerunterstützung“, die vor kurzen den Right Livelihood Award bekommen hat, schreibt ganz unten und ganz klein auf ihrer Website, dass das Justizministerium sie in das Register für „ausländische Agenten“ eingetragen habe. Und weiter: „Nun denn, wir sind wirklich Agenten – dieser Ausländer.“ Gemeint sind die Menschen, die Flüchtlinge, denen sie helfen. Memorial International denkt darüber nach, vorerst den Text seiner Erklärung oben auf der Memorial-Website stehen lassen: „Wir haben wir erfahren, dass das Justizministerium die Entscheidung getroffen hat, Memorial International in das Register von ‚Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen‘, aufzunehmen. Wir halten diese Entscheidung für rechtswidrig und werden gegen sie vor den Gerichten vorgehen.“
Ganz ohne praktische Folgen für die aktuelle Arbeit von Memorial International wird die Einstufung als „Agent“ wohl aber trotz allen Geschicks und allem Mutes nicht bleiben. Während die historische Forschungsarbeit zur politischen Repression in der Sowjetunion, das Archiv und die Bibliothek kaum davon berührt werden dürften (außer vielleicht wegen Geldnot, weil (inländische mehr als ausländische) Geldgeber Angst bekommen könnten), dürfte eines der schönsten und erfolgreichsten Projekte Memorials, der seit 15 Jahren stattfindende schweren Zeiten entgegen sehen (hier geht es zur russischsprachigen Website des Wettbewerbs und dem schönen Namen „Lehren aus der Geschichte“). Für die vielen Lehrer/innen und Schulen, die mit Memorial zusammen arbeiten und ohne die der Wettbewerb nicht funktionieren kann, wird der Druck vom Staat und seinen Medien (und das sind fast alle) sehr groß werden. Schon früher gab es Versuche von Schulbehörden, diese Zusammenarbeit zu verbieten. Bisher ließen sich solche Versuche auch wegen des sehr guten Ansehens des Wettbewerbs (übrigens bis in die Präsidentenadministration hinein) abwehren. Das wird viel schwieriger werden.
Inzwischen gibt es in Russland zudem viele nationalistische Gruppen, die aus eigener Initiative Jagd auf vermeintliche „Volksfeinde“ machen und dabei mitunter auch wohlmeinende Beamte vor sich hertreiben. Eine dieser Organisationen, die sich „Nationale Befreiungsbewegung“ (NOD) nennt, hatte bereits im Frühjahr die Preisverleihung des vorjährigen Schülergeschichtswettbewerbs zu sprengen versucht und Teilnehmer/innen mit grünem Desinfektionsmittel begossen. Solche Aktionen werden nicht selten mit der Polizei abgesprochen oder von ihr toleriert. So scheint es auch im Frühjahr gewesen zu sein. Die jetzige „Prüfung“ bei Memorial International, die zur „Agenten“-Erklärung geführt hat, wurde von einer Anzeige einer NOD-Aktivistin ausgelöst. Wenige Tage vor Bekanntwerden des „Prüfungsergebnisses“ hat dieselbe Frau auf der NOD-Website einen sehr kenntnisreichen Artikel veröffentlicht, warum Memorial International unbedingt als „Agent“ zu registrieren sei. Es ist nicht ganz klar, ob es sich dabei um eigene Recherche handelt oder diese Leute Zuträger aus dem Regierungsapparat haben.
Wie geht es nun weiter? Memorial wird als erstes Beschwerde gegen die Entscheidung des Justizministeriums einlegen. Sobald diese Beschwerde abgelehnt ist (wovon alle ausgehen) wird Memorial vor Gericht gehen. Memorial International stützt sich bei seiner Argumentation, die Entscheidung des Justizministeriums sei rechtswidrig, auf einen Spruch des russischen Verfassungsgerichts vom Frühjahr 2014. Damals hatte das Gericht die NGO-„Agentenparagraphen“ insgesamt als der Verfassung entsprechend eingestuft, aber „internationale Organisationen“ ausdrücklich davon ausgenommen, zu „Agenten“ gemacht zu werden. Die „Agentenparagraphen“ beziehen sich ausdrücklich auf russische NGOs und Memorial International ist als russische NGO mit dem besonderen Status einer „internationalen Organisation“ beim Justizministerium registriert. Nun werden Gerichtsverfahren in solch hochpolitischen Fällen in Russland bekanntermaßen auch politisch und nicht rechtlich entschieden. Doch Russland ist ein legalistischer Staat. Dieser Passus der Verfassungsgerichtsentscheidung würde der politischen Führung aber einen gute und gesichtswahrenden Grund geben, ein Gericht entscheiden zu lassen, warum sich das Justizministerium hier einen Fehler gemacht hat.
Das alles kann naturgemäß lange dauern. Selbst wenn es irgendwann eine Entscheidung zugunsten Memorials geben sollte, gilt die Organisation vorerst und bis dahin als „Agent“ und muss sich öffentlich auch so nennen. Tut sie das nicht oder nach Meinung des Justizministeriums unzureichend, dürften Geldstrafen folgen. Wie die Erfahrung bei anderen NGOs zeigt, ist auch eine hohe Geldstrafe wahrscheinlich, weil sich Memorial International nicht, wie es das Gesetz für NGO-„Agenten“ fordert, selbst um einen Eintrag ins „Agentenregister“ bemüht hat.
Fortsetzung folgt.