Vieles deutet darauf hin, dass für unabhängige NGOs in Russland das Endspiel begonnen hat. Die meisten von ihnen stehen vor der schwierigen Wahl, entweder auf ausländische Finanzierung zu verzichten oder ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Selbst diejenigen, die versuchen, auch künftig beides miteinander zu verbinden, werden sich einschränken müssen. Wohl spätestens im Herbst werden die ersten ausländischen Geberorganisationen (und gegen sie richtig sich das Gesetz in erster Linie) vom russischen Staat für „unerwünscht“ erklärt werden. Aller Voraussicht nach wird es zuerst die großen US-Stiftungen treffen, die (immer noch) den Löwenanteil ausländischer NGO-Förderung in Russland bereit stellen.
Die kürzlich vom Föderationsrat der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft zugeleitete Liste von 12 „ausländischen Nichtregierungsorganisationen“ dürfte eine gute Orientierung sein, in welche Richtung es erst einmal geht. Sie enthält sieben große US-Stiftungen (Soros, MacArthur, Mott-Foundation, National Endowment for Democracy, National Democratic Institute, International Republican Institute, Freedom House). Dazu kommen noch das in Warschau registrierte Eastern European Democratic Center, das aber ebenfalls von US-Geldgebern gegründet wurde, drei ukrainische Organisationen und die internationale „Krim-Feld-Mission für Menschenrechte“.
Nur letztere fällt ein wenig aus dem Raster, da es sich um einen informellen Personenzusammenschluss von Menschenrechtlern aus Russland, der Ukraine, Weißrussland, Kirgisien und Kasachstan handelt. Für sie ist auch schon der präsidiale Menschenrechtsrat („Fedotow-Rat“) eingetreten und vielleicht wird der Kelch an der Krim-Mission tatsächlich vorbei gehen. Das formale Problem, dass es keine Organisation im juristischen Sinn gibt, könnte dabei als gesichtswahrender Vorwand dienen.
Doch auch ohne das zwar schon in Kraft getretene aber eben noch nicht angewandte „Unerwünschte-Organisationen-Gesetz“ zieht der Staat die Schlinge um die Hälse vieler unabhängiger NGOs immer weiter zu. Zum einen „findet“ das Justizministerium weiterhin mit schöner Regelmäßigkeit neue „Agenten“, zum beginnen sich die Justizbehörden nun auch um diejenigen NGOs zu kümmern, die schon zu „Agenten“ erklärt worden sind, aber weiter widerspenstig bleiben.
Erst diese Woche hat es erstmals NGOs in Tschetschenien getroffen, und zwar gleich acht auf einmal. Während sich die Justizbehörden in den anderen Nordkaukasusrepubliken noch schwer tun, ja, in privaten Gesprächen sogar von Beamten dort die Frage zu hören ist, was sie denn machen sollten, wo sie doch wüssten, dass es sich bei „ihren“ NGOs nicht um „Agenten“ handele, ist Tschetschenien mal wieder vorneweg. In Sachen Loyalität mit Putin lässt sich Ramsan Kadyrow von niemandem etwas vormachen.
Ebenfalls getroffen hat es diese Woche mit Memorial Komi eine weitere in ihrer Region sehr aktive und angesehene Memorial-Mitgliedsorganisation und mit „Altaj – 21. Jahrhundert“ eine rege ökologische NGO an der Grenze zu Kasachstan, der Mongolei und China. Auf der „Agenten“-Website des Justizministerium (Stand 25. Juli) stehen damit nun 80 „Agenten“. Die acht tschetschenischen NGOs sind da noch nicht mitgezählt. Ich wiederhole meine Einschätzung, dass zu Ende des Jahres zwischen 120 und 150 NGO-„Agenten“ geben wird.
Nachdem bisher vom Justizministerium Geldstrafen vor allem dafür verhängt wurden, dass sich NGOs nicht von sich aus als „Agenten“ haben registrieren lassen (wozu sie dem Gesetz nach verpflichtet sind, aber nicht tun, da sie ihrer Rechtsauffassung nach eben keine „Agenten“ sind), sollen NGOs inzwischen immer häufiger dafür bezahlen, dass sie sich, nachdem sie zwangsweise zu „Agenten“ erklärt worden sind, nicht wie solche benehmen. Das Gesetz schreibt vor, dass „Agenten“-NGOs alle öffentlichen Äußerungen (und das betrifft natürlich als erstes Schriftliches) mit dem Zusatz versehen müssen, dies seien „Äußerungen einer die Funktion eines Agenten ausübenden“ NGO. So gut wie niemand macht das (erneut mit Verweis auf Klagen gegen den zwangsweisen „Agenten“-Status).
Entsprechende Strafbefehle haben zum Beispiel Transparency International Russland und die bekannte Öko-NGO Ecodefense bekommen. Beide wollen, es ist ein wenig Katz-und-Maus-Spiel, dagegen klagen. Die Chancen, zu gewinnen, sind inzwischen gleich Null.
Ein besonderes Trauerspiel Trauerspiel vollzieht sich in Perm. Nicht nur, aber auch mit Hilfe des „Agentengesetzes“ wird das Straflagermuseum „Perm-36“ (das einzige Lager in Russland, in dem Elemente des Stalinschen Gulag erhalten sind) vom Staat in eine Farce verwandelt. Die NGO Perm-36 (sie ist Teil des Memorial-Netzwerks), die das Museum aufgebaut und betrieben hat, wurde herausgedrängt. Der Staat hat selbst übernommen und will dort künftig „beide Seiten“ dargestellt wissen: die der (politischen) Gefangenen, aber vor allem auch die der Wärter.
Das Museum soll von einem Ort, an dem der Grausamkeit des sowjetischen Staates seine Bürger/innen gegenüber gedacht wird, zu einem „neutralen“ Museum des sowjetischen Strafvollzugs werden. Ja, Grausamkeiten und Unrecht sollen dort auch weiter vorkommen, aber sie werden als Fehler in einem ansonsten richtigen System dargestellt werden. Getreu der Putinschen Devise, nicht alles sei schlecht gewesen, aber „natürlich“ müsse man sich vor „Übertreibungen“ (russisch: „peregiby“) hüten.
Diejenigen, die sich mehr als 20 Jahre lang unter Aufbietung all ihrer Kraft (und manchmal darüber hinaus) für eine würdige Erinnerung an die Leiden der Opfer politischer Verfolgung in der Sowjetunion eingesetzt haben, werden nun nicht nur als „ausländische Agenten“ gebrandmarkt und sollen auch noch dafür Strafe bezahlen, dass sie sich diese Schandbezeichnung das nichtfreiwillig angeheftet haben. Zusätzliche Strafen drohen ihnen, weil sie die ihnen gehörenden Exponate, Ausstellungen und Bürotechnik „nicht rechtzeitig“ aus dem Lagermuseum abgeholt haben. An Obszönität lässt sich der heutige russische Staat von kaum jemandem überbieten.
Zum Schluss noch ein paar Worte darüber, wie weit die dauernde staatliche Propaganda über angebliche „Feinde“ oder „ausländische Agenten“ in den Köpfen vieler Menschen bereits verankert ist. Ich will das heute nicht analytisch, sondern anekdotisch verdeutlichen (meine Russisch verstehenden Facebook-„Freund/innen“ haben das dort schon lesen können):
Da ich als Büroleiter der Heinrich Böll Stiftung in Moskau diesen Sommer nach zehn Jahren aufhören werde, aber in Moskau wohnen bleiben möchte, muss ich mich um einen anderen Aufenthaltstitel bemühen. Um den zu bekommen, braucht man, neben einem Test in Russisch, russischer Geschichte und Gesetzgebung, auch ein Gesundheitszeugnis. Es soll niemand mit HIV-Infektion, Tuberkulose, Hautkrankheiten länger ins Land. Um dieses Zertifikat zu erlangen, steht auch ein Gespräch mit einem Psychiater auf dem Programm. Bei mir waren es zwei. Wie sich im Gespräch schnell heraus stellte, waren beide Armenier, ob russische Staatsbürger oder nicht, wurde nicht klar.
Der Jüngere, etwa 30 Jahre alt, fing ein Gespräch über Fußball an, lobte deutsche und äußerte sich weniger freundlich über russische Mannschaften. Dann fragte der Ältere, den ich auf etwa 60 Jahre schätze, was ich denn so machte. Ich antwortete, selbstverständlich wahrheitsgemäß, wenn auch ein wenig zögerlich, dass ich für eine deutsche Stiftung in Russland arbeite. Normalerweise stockt hier das Gespräch, weil sich kaum jemand so richtig etwas darunter vorstellen kann. Doch nicht diesmal.
Der ältere Psychiater fragte sofort: „Ah, Ihr arbeitet mit den NGO-Leuten. Woher bekommt Ihr Eurer Geld, sicher von den Amis“. Das Wort „Amis“ gibt die Bedeutung des russischen Begriffs „Amerikosy“, den der Mann gebrauchte, nicht wirklich wieder. „Scheiß-Amis“ kommt dem schon näher. Ich versuchte, doch einigermaßen verblüfft, abzuwehren, unser Geld käme von der Bundesregierung. Und woher er das überhaupt habe? Aus dem Fernsehen doch wohl. Darauf der Psychiater: „Nein, nein, das ist doch allgemein bekannt, dass die alle Geld von den Scheiß-Amis bekommen und gegen Russland arbeiten.“