Aufruf „Niemand will Krieg“ – will wirklich niemand Krieg?

„Niemand will Krieg. Aber Nordamerika, die Europäische Union und Russland treiben unausweichlich auf ihn zu, wenn sie der unheilvollen Spirale aus Drohung und Gegendrohung nicht endlich Einhalt gebieten.“ So beginnt ein Aufruf, der zu „einer neuen Entspannungspolitik“ in Europa aufruft und die Überschrift trägt „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ Unter den Unterzeichner/innen sind ehemalige Bundeskanzler, Minister/innen, aktive und weniger aktive Politiker/innen, Wissenschaftler/innen, Schriftsteller/innen, Schauspieler/innen usw., also angesehene Personen des öffentlichen Lebens. An diesem Aufruf stören mich drei wesentliche Dinge.

Erstens widerspricht die Eingangssentenz „Niemand will Krieg“ dem Titel des Aufrufs, in dem sich die Unterzeichner/innen von weiter nicht Genannten distanzieren, indem sie ihnen (wohl vorsorglich) die Zustimmung für eine Beteiligung an einem Krieg entziehen. Irgendjemand muss den Krieg also doch wollen oder zumindest billigend in Kauf nehmen. Ansonsten wäre der Aufruf überflüssig. Ich fürchte, damit sind so Leute wie ich gemeint, die der Meinung sind, man solle Putin und den Seinen (bitte nicht zu verwechseln mit ganz Russland) nicht einfach alles so durchgehen lassen.

Zweitens kommt der Aufruf ein wenig spät. Denn es ist Krieg in Europa. Anders lässt sich das Kämpfen und Sterben im Südosten der Ukraine kaum bezeichnen. Mitunter hört und liest man, das sei ein Bürgerkrieg. Das wäre es aber nur, wenn dort ausschließlich ukrainische Staatsbürger/innen gegen ukrainische Staatsbürger/innen kämpften oder, wie auch behauptet wird, die ukrainische Regierung gegen ihre eigenen Bürger/innen. Doch gibt es spätestens seit dem Sommer klare Beweise für eine direkte Beteiligung Russlands an diesem Krieg.

Mehr noch, mit großer Wahrscheinlichkeit gäbe es den Krieg ohne russische Intervention gar nicht. Mit dieser Behauptung beziehe ich mich nicht auf eventuell wenig belastbare, weil engagierte ukrainische Quellen, sondern auf den ersten großen „Helden“ des angeblichen Aufstands in der Ostukraine gegen angebliche Unterdrückung durch die Kiewer Regierung. Igor Strelkow (oder, laut Pass, Girkin) brüstete sich vor erst zehn Tagen in einem Interview damit, dass ohne ihn und seine Einheit, die im April die Stadt Slawjansk besetzte, alles überhaupt gar nicht erst angefangen hätte. Strelkow/Girkin ist übrigen Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB (Einschub: Sehr genau hat die Entwicklung des Kriegs in der Ostukraine Nikolaj Mitrochin in der Zeitschrift Osteuropa, Heft 8/2014, in seinem Aufsatz „Infiltration, Instruktion, Invasion. Russlands Krieg in der Ukraine nachgezeichnet).

Etwas später, im August, hätte die ukrainische Armee den Krieg fast durch die Eroberung von Donezk und Lugansk beendet, wenn nicht reguläre russische Truppen eingegriffen hätten. Ich will hier die ukrainische Armee und die mit ihr kämpfenden, teilweise aus rechtsradikalen Nationalisten bestehenden Freiwilligenverbände nicht überhöhen, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass nach dieser von Russland verhinderten militärischen Lösung das Leben der im ukrainischen Osten lebenden Menschen systematisch gefährdet gewesen wäre. Alles russische Gerede von einem angeblichen „Genozid“ dort an der russischsprachigen Bevölkerung ist propagandistischer Unsinn.

So wie der Kreml im Sommer Soldaten schickte, um die Freischärler zu retten, kann er auch heute noch den Krieg beenden. Russland braucht nur die Grenze zur Ukraine für Waffen, Freiwillige und eigene Soldaten zu schließen und die beiden selbsternannten „Volksrepubliken“ werden nicht mehr lange durchhalten. Im Gegensatz zur ukrainischen Regierung hat die russische die Möglichkeit und Fähigkeit, die Grenze zu kontrollieren. Eine solche Schließung wäre auch der einzige Beweis, dass es der Kreml mit der Einhaltung der Minsker Vereinbarungen über einen Waffenstillstand und eine Regulierung des Konflikts ernst meinte. Solange das nicht passiert, lasse ich mich nicht davon überzeugen, dass die russische Machtelite um Putin wirklich keinen Krieg will.

Und damit komme ich zum dritten Punkt. Ich halte die Grundannahme des Aufrufs, niemand wolle Krieg, nicht nur für demagogisch, sondern auch für falsch. Dazu möchte ich eine kleine Geschichte erzählen. Im November 2012 fand in Moskau eine Jahressitzung des Petersburger Dialogs statt (zu den Unterzeichner/innen des Aufrufs gehören übrigens viele Funktionsträger/innen des Petersburger Dialogs). Wichtiger Teil war eine Diskussion unter dem Titel „Die Kunst einander zuzuhören – Diskussion brennender Fragen“, die von Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich Böll Stiftung und Wjatscheslaw Nikonow, Chef der Stiftung „Russische Welt“ moderiert wurde. Sehr schnell ging es bei den „brennenden Fragen“ schon damals, ein Jahr bevor die Maidan-Proteste begannen, um das Verhältnis zwischen Russland und der EU/dem Westen.

Die Diskussionslinien waren schon damals die gleichen wie heute: Die meisten russischen Teilnehmer/innen beklagten die Missachtung russischer Interessen und eine angebliche Bedrohung des Landes durch den Westen. Es ging um den Georgienkrieg und eine mögliche NATO-Mitgliedschaft von Georgien und auch der Ukraine (obwohl beiden schon 2008 beim NATO-Gipfel in Bukarest der Wunsch, eine Mitgliedschaft vorzubereiten, abschlägig beschieden worden war, vor allem, weil Deutschland dagegen war). Die deutschen Teilnehmer/innen waren gespalten in jene, die den russischen Klagen eine gewisse Plausibilität zugestanden, und jene, die sie bestimmt aber immer höflich zurückwiesen.

Zum Schluss nahmen Alexej Puschkow, Vorsitzender des auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, und Wjatscheslaw Nikonow (übrigens auch noch Dumaabgeordneter und Vorsitzender des Bildungsausschusses) das Wort. Puschkow erklärte den durchaus verdutzten Deutschen, dass Russland niemandem gegenüber auch nur irgendwelche Verpflichtungen habe, sondern frei sei, zu handeln, wie es wolle. Nikonow setzte noch einen oben drauf und stellte die rhetorische Frage, ob Deutschland oder die EU insgesamt denn bereit sei, für ihre Überzeugungen Krieg zu führen. Dann beantwortete er sie selbst mit „nein“. Russland hingegen sei dazu fähig und bereit. Ende des Gesprächs.

Nun könnte man einwenden, das seien in einer vielleicht etwas hitzigen, aber eben offenen Diskussion im Eifer hingesagte Worte. Zudem seien es nicht Puschkow und Nikonow, die die russische Außenpolitik machen. Ich kann aber versichern, das genau dieser Ton, die Art zu reden und, wenn man so will, zu argumentieren alltäglich in vielfachen Varianten im russischen Fernsehen zu sehen sind. Man muss nur ein wenig russisch können und das erschließt sich alles. Außerdem habe ich das nicht selten (zwar meist ein wenig verbindlicher, aber im Inhalt gleich) in den vergangenen Jahren in persönlichen Gesprächen oder bei anderen sogenannten „Dialogen“ gehört. All das lässt mich, ich wiederhole mich, erheblich am grundsätzlichen Friedenswillen der russischen Führung zweifeln.

Es gibt aber noch eine Sache, die die Aufrufunterzeichner/innen nicht wahrnehmen oder verschweigen. Das ist die Frage nach der Schuld an der gegenwärtigen gewaltsamen Eskalation. Hier nehmen sie eine Haltung ein, die ich opportunistische Äquidistanz nennen möchte. Sie werfen, gleich im ersten Satz, den USA, der EU und Russland gleichermaßen vor, nicht genug gegen eine, wie sie es nennen, „unheilvolle Spirale aus Drohung und Gegendrohung“ zu tun. Sie setzen den Einsatz des Militärs durch Russland mit den westlichen Sanktionen und der ausdrücklichen Absage an eine militärische Einmischung gleich. Und sie beschuldigen, indem sie die deutschen Medien auffordern, „ihrer Pflicht zur vorurteilsfreien Berichterstattung überzeugender nachzukommen“, diese implizit, eben das nicht zu tun.

Auf diesen Vorwurf hat Ina Ruck, lange Jahre Chefin des ARD-Büros in Moskau, Mitte November in einer Laudatio auf Reporter ohne Grenzen bei der Verleihung des Internationalen Friedenspreises die für mich bisher überzeugendste Antwort gegeben. Zum Schluss ihrer Rede, die ich ausdrücklich zur Lektüre empfehle, zitiert Ina Ruck den US-amerikanischen Journalisten David Cay Johnston: „Wenn jemand behauptet, die Erde sei eine Scheibe, dann kann das journalistische Fazit nicht sein, dass die Form der Erde nach wie vor umstritten ist“. Und auch nicht das politische, möchte ich hinzu fügen.

Zum Schluss noch einmal ein Zitat: Es gehe „nicht um Putin“ heißt es außerdem in diesem Aufruf und direkt davor: „Jeder außenpolitisch versierte Journalist wird die Furcht der Russen verstehen, seit NATO-Mitglieder 2008 Georgien und die Ukraine einluden, Mitglieder im Bündnis zu werden.“ Und was ist mit der Furcht der Ukrainer und Georgier, der Polen, Esten. Litauer und Letten? Es geht eben doch (auch) um Putin, darum, wie eine staatliche Propagandamaschine seit Monaten diese Angst in Russland systematisch mit Lügen, wissentlich falschen Behauptungen und, ja, hier stimmt der Vergleich, Blut-und-Boden-Rhetorik schürt.