Wladimir Putin hat sich, zum zweiten Mal, öffentlich an die Freischärler im ukrainischen Osten gewandt. Putin nennt in dieser letzte Nacht auf der Kreml-Website veröffentlichten Erklärung die Ostukraine „Neurussland“, ohne genau einzugrenzen, welches gebiet er damit meint. Er begrüßt die jüngsten militärischen Erfolge der Freischärler und ruft sie dann dazu auf, ukrainischen Einheiten, die von ihnen eingekesselt wurden, freien Abzug zu gewähren, um, so wörtlich, „sinnlose Opfer“ zu vermeiden. Mehr direkte Zitate können auf Deutsch in einem Artikel von Friedrich Schmidt auf FAZ.NET gelesen werden. Was bezweckt Putin damit?
Die russische Führung ist in den vergangenen Tagen unter erheblichen Druck geraten, weil sich die Beweise für eine direkte Beteiligung russischer Truppen an den Kämpfen in der Ostukraine so sehr verdichtet haben, dass selbst Skeptiker (im Westen oder im Osten) sie nur noch mit einem verschämten Blick bestreiten können. Das ist kein Zufall, sondern Folge der militärischen Erfolge der ukrainischen Armee der vergangenen Wochen. Noch vor zehn Tagen schien es so, als seien die Tage der Freischärler im Donbass gezählt und nur noch eine Frage der Zeit, bis die ukrainische Armee die Kontrolle auch über die beiden Großstädte Lugansk und Donezk übernimmt. Das konnte Putin nicht zulassen. Also verstärkte er die militärische Unterstützung der Freischärler.
Offenbar helfen aber Waffen, auch schwere Waffen, einige Militärinstrukteure und russische Freiwillige (Nationalisten, Kosaken etc.) nicht mehr. Mehr und mehr haben sich gut ausgebildete russische Soldaten an den Kämpfen beteiligt. Dass das, wie einer der Freischärlerkommandeure diese Woche behauptete, Freiwillige seien, die dafür extra Urlaub von der russischen Armee genommen haben, glaubt selbst in Russland kaum jemand (was übrigens nicht bedeutet, dass ihr Einsatz nicht von einer Mehrheit gut geheißen würde). Doch auch der vermehrte Einsatz von russischen Soldaten in den Reihen der Freischärler scheint die Kämpfe nicht zu ihren Gunsten gewendet zu haben. Daraufhin eröffneten offenbar reguläre russischen Truppen eine weitere Front im Süden an der Küste des Asowschen Meeres. Die ukrainischen Truppen wurden zurück gedrängt und an einzelnen Stellen sogar größere Kontingente durch die Freischärler eingekesselt.
Der für den Kreml unerwünschte Nebeneffekt dieser noch massiveren Intervention war aber abzusehen. Mehr russische Soldaten, die auf ukrainischem Staatsgebiet kämpfen, heißt automatisch mehr russische Soldaten, die in ukrainische Gefangenschaft geraten und mehr tote russische Soldaten, die nach Hause gebracht, beerdigt werden und ihren Angehörigen erklärt werden müssen (und irgendwann auch der wie auch immer eingeschränkten und propagandistisch bearbeiteten Öffentlichkeit). Die schon bisher plumpe Lüge, man helfe in der Ostukraine nur humanitär und ideell, wird zusehends unhaltbar.
In dieser Situation soll die Putin-Erklärung helfen. Ich denke, dass Putin mit dieser Erklärung versucht, seine bisherige Linie weiter zu verfolgen, also die Unterstützung der Freischärler, um sie zu einer Verhandlungspartei, einem politischen Subjekt innerhalb (!) der Ukraine zu machen. Gleichzeitig soll dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko klar gemacht werden, dass die Ukraine diesen Konflikt militärisch nicht gewinnen kann (denn der Westen wird, richtigerweise, nicht militärisch eingreifen).
Da öffentliche Erklärungen immer viele Adressaten haben und auch Leute und Gruppen erreichen, die man nicht in erster Linie im Auge hat, zielt auch dieser Erklärung in eine ganze Reihe von Richtungen. Durch das ausdrückliche Lob für die Freischärler und die Benutzung der Bezeichnung „Neurussland“ für die Ostukraine versucht der Kreml auch die in den vergangenen Monaten erstarkten nationalistischen Kräfte in Russland zu beruhigen, ihnen vor allem aber ein wenig Kritikwind aus den Segeln zu nehmen.
Im Gegensatz vielen Einschätzungen in der westlichen Presse in den vergangenen Tagen, bin ich im Übrigen weiterhin davon überzeugt, dass Putin keinen erklärten Krieg anstrebt und keine Annexion der Ostukraine à la Krim. Auch ein von der übrigen Ukraine unabhängiges staatsähnliches Gebilde namens „Neurussland“ dürfte dem Kreml in allen Aspekten (politisch, wirtschaftlich) zu teuer sein.
Das muss nicht immer so bleiben. Es gibt wahrscheinlich keine absoluten Grenzen, jedenfalls keine momentan schon gesetzten. Wie ich schon früher geschrieben habe, agiert der Kreml situativ. Das zeigt auch wieder die oben skizzierte Ereignisabfolge. Vieles kommt nun auf die Reaktion des Westens an. Aber wirklich etwas ändern wird sich wohl erst, wenn sich in Russland Opposition über die „üblichen Verdächtigen“ hinaus regt.
Die heutige, an Putin gerichtete Erklärung von Memorial, die richtigerweise von einer „Aggression“ Russlands der Ukraine gegenüber spricht und Putin auffordert, die Truppen unverzüglich zurück zu ziehen, ist mutig, vielleicht zu mutig, wird aber leider wenig bewirken (außer noch mehr Druck auf russische NGOs). Viel wirksamer dürften aber Initiativen von Angehörigen russischer Soldaten sein, die in den vergangenen Wochen verschwunden sind oder Tot nach Hause zurückgekehrt und meist heimlich beerdigt. Das weckt Erinnerungen an Afghanistan, und das sind keine guten Erinnerungen.