Auf den ersten Blick ist die Antwort auf die Frage in der Überschrift einfach: niemand! Michail Chodorkowskij wurde von Wladimir Putin freigelassen. Einmal formal, juristisch, denn als Präsident hat er (und nur er) das Recht, Strafgefangene zu begnadigen. Dann aber auch politisch. Chodorkowskij wurde verhaftet, weil Putin das so wollte (große Einigkeit). Er wurde ein erstes Mal verurteilt, weil Putin das so wollte (hier ist die Einigkeit, wie ich zugeben muss, nicht ganz so groß). Er wurde ein zweites Mal verurteilt, weil Putin das so wollte (hier ist die Einigkeit schon größer). Und nun wurde er freigelassen, weil Putin das so wollte (hier sind sich nun endlich alle einig).
Alle? Nein! Denn wenn man Alexander Rahr (dem Kreml in Deutschland) und einer ganzen Reihe von deutschen Sozialdemokraten glauben kann, dann war da auch noch Diplomatie im Spiel. „Stille Diplomatie“, um genau zu sein (auch wenn das ein Pleonasmus ist). Demnach hat Hans-Dietrich Genscher seit geraumer Zeit (genannt werden zweieinhalb Jahre), auf Bitten der Anwälte Chodorkowkijs und nach Vermittlung des Bundeskanzleramts mit dem Kreml und auch Putin persönlich über eine mögliche Freilassung Chodorkowskijs gesprochen („verhandelt“ kann man ja kaum sagen). Und diese stille Hartnäckigkeit hat sich nun ausgezahlt.
Die Kehrbehauptung dieser Erzählung ist, dass öffentliche Forderungen, gar öffentliche Kritik (also „laute Diplomatie“?) nicht zum erwünschten Resultat, also der Freilassung Chodorkowskijs, geführt, ja vielleicht gar geschadet hätten. Außerdem sei dieser Erfolg nur möglich, weil „Deutschland“ weiterhin über „geeignete Kommunikationskanäle“ verfüge. Und über diese Kanäle verfüge das Land eben weil sich führende PolitikerInnen (früher) mit öffentlicher Kritik gegenüber der russischen Führung (und dem Land insgesamt) eher zurück gehalten hätten.
Einmal angenommen, es sei wirklich so gewesen. Was mag Putin dann, nach zwei Jahren dazu bewegt haben, seine Meinung zu ändern und Chodorkowskij frei zu lassen? Da gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Dass es ihm plötzlich einfach so in den Kopf gekommen ist, können wir wohl ausschließen. Also muss etwas passiert sein, muss sich etwas verändert haben. „Chodorkowskij im Gefängnis“ ist offenbar inzwischen für Putin weniger wert (oder weniger gefährlich) als „Chodorkowskij in Freiheit“.
(Gute) Gründe gibt es für Putin viele (und wahrscheinlich hat nicht ein einzelner den Ausschlag gegeben, sondern ein ganzes Bündel, das erwägt worden ist). Die meisten sind irgendwo schon genannt worden. Hier nur vier Beispiele (es gäbe noch mehr):
- Nach zehn Jahren in Haft wächst das Mitleid mit dem Gefangenen und der Gefängniswärter erscheint immer rachsüchtiger.
- Durch die schwere Krankheit seiner Mutter und die gleichzeitige Drohung eines dritten Prozesses war Chodorkowskij im Gegensatz zu früher bereit, ein Gnadengesuch zu stellen, dass sich vom Kreml als Schuldeingeständnis hinstellen lässt.
- Dadurch gewinnt die russische Regierung ein zusätzliches (und vielleicht sehr nötiges) Argument in den vor internationalen Gerichten anhängigen Schadensersatzklagen wegen des zweifelhaften Kaufs der Jukos-Aktiva durch den Staatskonzern Rosneft.
- Vor den Olympischen Spielen in Sotschi sollte so international ein wenig gut Wetter (oder zumindest besseres) gemacht werden.
Was auch immer von diesen (oder anderen) Gründen den Ausschlag für Chodorkowskijs Freilassung gegeben hat, mit „stiller Diplomatie“ hat das nur am Rande zu tun. Die Diplomatie ist hier nicht mehr (aber auch nicht weniger) als ein Instrument, die sich bietende Gelegenheit (besser und mit größerer Erfolgswahrscheinlichkeit) zu nutzen. Nichts also gegen funktionierende Back Channel. Sie sind oft wichtig und nützlich, aber sie sind nicht das Wesentliche.
Der Grund (oder die Gründe) für die Freilassung liegen aber immer im Politischen. Und das Politische ist (spätestens in der modernen, elektronisch vernetzten) Welt letztlich immer öffentlich. Das gilt insbesondere für die gegenwärtige russische Machtelite, die, trotz (oder vielleicht gerade wegen) ihrer selbstbewussten bis selbstherrlichen Attitüde, so sehr nach (insbesondere internationaler) Anerkennung giert (warum sonst diese monströsen Olympischen Spiele?).
Kurz und zusammen gefasst: Freigelassen wurde Chodorkowskij, weil entweder die politische Kosten-Nutzen-Rechnung seiner weiteren Haft dafür gesprochen oder weil seine Freilassung politische Dividende versprochen hat. So oder so ist die (öffentliche) Kritik (russischer und ausländischer zivilgesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Akteure ebenso wie ausländischer Regierungen) an der Haft in diesem Sinne zu groß geworden.
Die „stille Diplomatie“, deren grundsätzlichen Nutzen ich gar nicht in Abrede stellen will, mag dann beigetragen haben den Deal über die letzte Hürde zu helfen. Nicht weniger, aber vor allem nicht mehr.