Fünf Jahre auf Bewährung für Nawalynj – ein Sieg für Putin?

Werner Schulz, grüner EP-Abgeordneter und Mitglied der EU-russischen Parlamentariergruppe, kommentierte die gestrige (Mittwoch, 16. Oktober 2013) 5-Jahre-mit-Bewährungs-Verurteilung für Alexej Nawalnyj in einer schnellen Pressemitteilung. Überschrift: „Putin schaltet Nawalnyj als politischen Gegner aus“. Damit hat er Putins Ziel wahrscheinlich korrekt beschrieben. Ich glaube aber nicht, dass der Kreml das so einfach noch erreichen kann. Dazu hat die russische Führung zumindest seit dem Frühjahr zu viele Fehler gemacht.  

Dieser Versuch, sich aus der selbst gestellten Falle zu befreien wird also, davon bin ich überzeugt, schief gehen. Nach der doppelten Rochade, Nawalnyj Ende Juli erst zu fünf Jahren Lagerhaft zu verurteilen, ihn dann im Gerichtssaal fest zu nehmen, um ihn am nächsten Tag als Moskauer Bürgermeisterkandidaten wieder frei zu lassen, konnte Nawalnyj eigentlich nur noch gewinnen: Lagerhaft hätte ihn endgültig zum Helden gemacht. Frei kann er weiter Politik machen. Und das wird er, trotz des mit dem Urteil verbundenden Verlusts des passiven Wahlrechts (das die Moskauer Stadtparlamentswahlen im kommenden Jahr, die nächsten Dumawahlen 2016 und auch die nächsten Präsidentenwahlen 2018 mit einschließt) auch tun. Er hat es bereits angekündigt.

Der Kreml hatte also mit dem Urteil die Wahl zwischen Pest und Cholera  und hat sich für beide entschieden. Die Bewährungsstrafe ist ein in letzter Zeit typisch werdendes Sowohl-als-auch. Ja, Nawalnyj in den Knast zu schicken hätte, ich wiederhole mich, einen Helden aus ihm gemacht. Es hätte aber auch Entschlossenheit auf Seiten des Kremls demonstriert. Auf der anderen Seite hätte ein Freispruch so ausgesehen, als ob der Kreml eingeknickt wäre. Es hätte aber auch als Angebot an große Teile der liberalen Opposition gewertet werden können, mit der Modernisierung des Landes angesichts der politischen, vor allem aber wirtschaftlichen Stagnation ernster zu machen als bisher. Die Bewährungsstrafe ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Sie zeigt keine wirklich Härte, ist aber auch kein Angebot.

Sie gibt Putin nicht einmal einen neuen Hebel gegen Nawalnyj in die Hand. Ja, er darf fünf Jahre nirgendwo kandidieren. Aber das könnte der Kreml auch so jederzeit, bei jeder Wahl verhindern, egal auf welcher Ebene. Die Macht dazu hat er, wie in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt. So hatte das Urteil nur einen Sinn: Nicht das Gesicht zu verlieren angesichts der ursprünglichen fünf Jahre Lagerhaft ohne Bewährung. Dazu macht es Nawalnyj das Leben ein klein wenig schwerer. Der Gesichtsverlust ist aber, nach dem Hin-und-her beim ersten Urteil Ende Juli, vor allem aber nach dem fulminanten Wahlkampf und den sehr beachtlichen 27 Prozent bei den Bürgermeisterwahlen schon längst da.

Und ob sich Nawalnyj vom Kandidaturverbot und von den sonstigen Bewährungsauflagen aufhalten lässt, ist ebenfalls höchst zweifelhaft. Durch die Verurteilung kann er nun fünf Jahre lang weiter an seinem Image als unerschrockener, vor allem aber, im Gegensatz zu vielen anderen, effektiven Oppositionellen arbeiten. Nawalnyj ist seit langem der einzige öffentliche Politiker in Russland, der mit seinen Kampagnen den Kreml in die Enge treibt. Das tut er auch nun wieder mit seiner Initiative, 100.000 Unterschriften für die Einführung einer Visumspflicht für Bürger der ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien und im Südkaukasus (also für Aserbeidschaner und Armenier, weil Georgier seit dem Krieg im Sommer 2008 ohnehin nur in familiären Angelegenheiten und mit Visum nach Russland einreisen dürfen)  zu sammeln und so das Parlament zu einer Debatte darüber zu zwingen.

Nun lässt sich trefflich darüber streiten (und im russischen Internet geschieht das durchaus heftig), ob diese Initiative nun fremdenfeindlich ist und Wasser auf Putins Mühlen (oder, noch schlimmer, der Mühlen radikaler Nationalisten), oder ob eine wie auch immer ungebremste Einwanderung aus diesen Ländern zu einer Verschärfung der innenpolitischen Situation in Russland führt und deshalb begrenzt werden soll. Ich habe erhebliche Zweifel an Letzterem und neige zu Ersterem, auch weil ein nicht unerheblicher Teil der „Fremden“, gegen die sich die Proteste in Moskau gerichtet haben, durch Visa ohnehin nicht aus dem Land halten lassen, weil sie russische StaatsbürgerInnen sind. Aber ich weiß auch, dass das Problem sehr vielschichtig ist und die Ängste vieler Menschen vor allem in Zentralrussland über tatsächliche oder angebliche Zuwanderung, über tatsächliche oder nur behauptet oder “gefühlte“ Zunahmen von Kriminalität durch die „Fremden“ (ob nun geschürt oder ungeschürt, ob berechtigt oder unberechtigt) da sind, ein politischer Faktor sind und sich nicht (mehr) durch gutes Zureden vertreiben lassen (doch davon ausführlicher im einem der nächsten Blogbeiträge).

Hier geht es mir um etwas Anderes: Nawalnyj hat ein ausnehmend gutes Gespür dafür, mit welchen Themen und welchen Methoden die gegenwärtige Staatsführung in Russland in die Bredouille gebracht werden kann. Oft kann man ihm inhaltlich zustimmen, manchmal ist das schwierig, manchmal unmöglich. Aber er immer nutzt er die ja durchaus begrenzten Möglichkeiten einer vom Kreml kontrollierten Öffentlichkeit, vor allem die des Internets. Er nutzt auch besser als fast alle anderen Oppositionellen die Widersprüche der Kremlpolitik. In der Ausländerfrage tut er das z.B., indem er die Frage stellt, warum denn die Visumspflicht für Menschen aus Zentralasien trotz vieler Ankündigungen noch nicht längst eingeführt wurde. Seine Antwort lautet: Weil sich korrupte Beamte (bis ganz oben in die Hierarchien) zusammen mit Unternehmern an den illegalen Ausländern (eben weil sie illegal, und damit praktisch rechtlos sind) dumm und dämlich verdienen.

Noch einmal: Das kann und muss man inhaltlich kritisieren. Aber es kommt an und der Kreml muss reagieren. Das mag bedauerlich sein, aber außer ihm schafft kaum jemand so etwas. Für diese Form der Protopolitik braucht Nawalnyj keinen Posten. Er muss dafür nicht Bürgermeister werden, Abgeordneter oder gar Präsident. Insofern geht das mit der Bewährungsstrafe einhergehende Kandidatur-Verbot ins Leere. Insofern ist Nawalnyj nicht ausgeschaltet. Die Frage, ob Nawalnyj ein guter Bürgermeister/Abgeordneter/Präsident wäre, stellt sich momentan nicht. Auch deshalb haben bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen viele Menschen, die inhaltlich mit Nawalnyj nicht übereinstimmen, ihm trotzdem ihre Stimme gegeben. Weil es gegenwärtig darum geht, Unmut Putin und seinem politischen System gegenüber auszudrücken, aber noch nicht um personelle Alternativen. So fest sitzt Putin dann doch immer noch im Sattel. Aber genau deswegen bleibt Nawalnyj für Putin gefährlich.