Oft wird Wladimir Putin ein zwar hervorragendes taktisches Gespür nachgesagt, aber die Fähigkeit zu strategischem Denken und Handeln abgesprochen. Auch ich habe das schon so ähnlich geschrieben. Und tatsächlich scheinen die meisten Entscheidungen Putins kurzfristig Probleme zu lösen, um mittel- und langfristig umso mehr neue Widrigkeiten nach sich zu ziehen. Die lächerliche Reduzierung der Haftstrafen für Michail Chodorkowskij und Platon Lebedew, Thema dieses Posts, scheint so ein Fall zu sein.
Doch es könnte auch anders herum sein. Zumindest wenn man (die eigene) politische Herrschaft im Blick hat und nicht die (wie auch immer verstandene) richtige Entwicklung seines Landes, der Welt. Immerhin hält sich Putin seit nun schon fast 14 Jahren an der Macht. Da kann seine Methode, bei allen ins Feld zu führenden äußeren (Glücks-)Umständen, so falsch nicht sein. Und auch Angela Merkel kommt da in den Sinn. Immer kleine Schritte. Immer das nächste Problem im Auge. Sich nicht übernehmen und systematisch alles abarbeiten. Das sollte bei der Lektüre der folgenden Analyse im Kopf behalten werden.
Um zwei Monate hat das russische Oberste Gericht Anfang August die jeweils elfjährigen Haftstrafen von Chodorkowskij und Lebedew reduziert. Wie immer vor russischen Gerichten wirkte alles sehr rechtstaatlich – und war es doch nicht. Das Oberste Gericht fand heraus, dass die angeblich von den beiden Gefangenen ihrem eigenen Konzern gestohlene Ölmenge nicht ganz so groß war, wie es das verurteilende Gericht angenommen hatte. Einige Milliarden Dollar weniger Diebesgut setzte das Gericht nun in zwei Monate weniger Haft um. Lebedew kann nun im Mai 2014 frei kommen, Chodorkowskij im August. Die Betonung liegt auf „kann“, denn sicher ist das keinesfalls. Die Entscheidung des Obersten Gerichts zeigt Augenmaß, allerdings weniger rechtliches als mehr politisches.
Ganz unterschiedliche Institutionen des russischen Staates bereiten sich schon auf dieses nächste Jahr ganz unterschiedlich vor. Die Staatsduma wird wohl im Herbst, jedenfalls lauten so die Pläne, den Bann für alle ehemals wegen „schwerer Straftaten“ Verurteilter aufheben, sich in öffentliche Ämter wählen zu lassen. Bisher bleibt ihnen auch nach der Haftentlassung das passive Wahlrecht lebenslang verwehrt. Die Pläne der Duma sahen anfangs eine reduzierte Wartezeit von sechs Jahren vor. Nun werden es wohl aber acht Jahre werden. Damit bekäme Chodorkowskij, so er im kommenden Sommer frei kommt, im Sommer 2022 wieder das Recht zu kandidieren – genau ein halbes Jahr nach den Dumawahlen 2021. Immerhin könnte er sich dann 2024 um die Nachfolge von Wladimir Putin bewerben, der, vorausgesetzt er würde 2018 wieder gewählt und die Verfassung würde nicht geändert, 2024 nicht wieder antreten dürfte. Damit schafft die Duma zeitliche Luft, für den Fall, dass Chodorkowskij wirklich in einem Jahr frei kommt.
Das mächtige Staatliche Untersuchungskomitee, eine Art Superstaatanwaltschaft und Superpolizei gleichzeitig, scheint andere Pläne zu haben. Dort bereitet man offenbar lieber auf einen dritten Prozess gegen Chodorkowskij vor. Die bisher erkennbare Anklagekonstruktion ist so abenteuerlich wie vom Untersuchungskomitee gewohnt und geht in etwa so: Chodorkowskij setze auch aus dem Gefängnis durch Helfershelfer in Freiheit die Geldwäsche fort, für die er beim ersten Prozess verurteilt worden ist. Mit dem gewaschenen Geld versuche er, u.a. über russische NGOs und PolitikerInnen, aber auch den Westen, in Russland eine Humanisierung des Rechtssystems, insbesondere des Strafvollzugs zu initiieren, die dann zu seiner baldigen Freilassung führen werde. Aus Sicht des Untersuchungskomitees ist das das Gleiche wie ein Fluchtversuch aus der Haft (der in Russland übrigens, im Gegensatz zu Deutschland, selbst schon strafbar und damit strafverschärfend ist). Es ist also ganz und gar nicht ausgeschlossen, dass die jetzt erlassenen zwei Monate Chodorkowskij und Lebedew gar nichts nützen werden, weil sie, wegen eines neuen Prozesses, ohnehin in Untersuchungshaft bleiben müssen.
Doch auch wenn Chodorkowksij im August 2014 frei kommen sollte, erwartet ihn kein süßes Leben in Freiheit. Er bleibt ein großer Schuldner vor dem russischen Staat. Immerhin ist er rechtskräftig verurteilt worden, viele Milliarden US-Dollar an Steuern hinterzogen zu haben. Den Anspruch darauf will der russische Staat keinesfalls aufgeben. Außer dem sehr geringen russischen Existenzminimum dürfte ein freier Chodorkowskij in Russland kein Haus, kein Auto, ja nicht einmal einen einigermaßen modernen Fernseher besitzen, ohne dass der Gerichtsvollzieher kommt. Ausreisen wird er aber auch nicht können. Denn laut Gesetz ist Schuldnern (vor dem Staat, aber auch, wenn gerichtlich anerkannt, vor natürlichen oder juristischen Personen) der Weg über die Grenze und damit aus den Fängen des russischen Staates und seiner Vollzugsorgane verboten.
Was immer mit Chodorkowskij und Lebedew 2014 passiert, weiß gegenwärtig wohl niemand, selbst die obersten Entscheider in Russland nicht. Das wird, wie bei vielen anderen Problemen auch (siehe oben), kurzfristig entschieden werden, wenn es entschieden werden muss. Wichtiger ist aber wohl, dass der Staat sich eine ganze Reihe von Optionen geschaffen hat, aus denen, so die Zeit kommt, nach Opportunität, nicht nach Recht (auch wenn das manchmal zusammen fällt), ausgewählt werden kann.