Am 26. Juni 2013 wird Michail Chodorkowskij 50. Im kommenden Herbst, in genau vier Monaten wird er 10 Jahre in Haft sein. Zwar endet seine Haftsstrafe ein Jahr darauf. Aber gegenwärtig kann sich kaum jemand vorstellen, dass er tatsächlich frei kommt. Auch ich halte eine weitere Anklage oder neue, findige Gesetzesauslegungen für wahrscheinlicher. Es mag sogar sein, dass gilt, was viele BeobachterInnen seit langem sagen: Solange Putin an der Macht ist, wird Chodorkowskij im Lager sitzen. Hoffentlich irren sie und ich uns.
Am 24. Juni fanden in Moskau die IX. Chodorkowskij-Debatten unter dem Titel „Staat und Gesellschaft 2013“ statt. Rund 150 AktivistInnen, ExpertInnen und PolitikerInnen diskutierten über das „Ökonomisches System des Putinismus“, die „Evolution des Regimes: Verschärfung der Kontrolle über die Gesellschaft“ und „Michail Chodorkowskij: Erfahrung eines Widerstands“. Zur Eröffnung verlas Arsenij Roginskij, Vorstandsvorsitzender von Memorial, einen Brief von Michail Chodorkowskij an die TeilnehmerInnen, den ich hier dokumentiere:
Brief von Michail Chodorkowskij an die Teilnehmer der 9. Chodorkowskij-Debatten
Juni 2013
Liebe Freunde,
mehr als 10 Jahre sind seit meiner Rede beim Treffen von Präsident Putin mit russischen Unternehmern und Industriellen vergangen. Danach wurde der „Fall JuKOS“ auf den Weg gebracht. Ich habe damals von systemimmanenter Korruption als ernster Hürde für die Entwicklung der russischen Wirtschaft gesprochen.
Seither ist der Preis für Öl um das Fünffache gewachsen, die Korruption um das Zehnfache. Den Platz des zerschlagenen JuKOS-Konzerns hat Rosneft eingenommen, das fast alle unsere Projekte fortgeführt hat, allerdings mit dem zehnfachen Selbstkosten.
Heute ist das Wirtschaftswachstum im Land unter den (bei der gegenwärtige Qualität staatlicher Verwaltung) kritischen Wert von 4 Prozent gefallen. Der von Putin erklärte Kampf gegen die Korruption und gegen den Raub von Budgetmitteln hat kein durchgreifendes Resultat gebracht. Ja, das konnte er auch nicht, da Korruption das Rückgrat des Regimes ist.
Trotzdem leben viele Menschen angesichts der weiterhin hohen Preise für Rohstoffe besser als im vorigen Jahrzehnt. Die meisten von ihnen sind sie nicht bereit, dieses gegenwärtige, vergleichweise Wohlergehen für die Zukunft in Gefahr zu bringen. Vorerst scheint es, als ob Gewissen, die eigene Würde und politische Freiheit zwar bei den Menschen an Gewicht gewinnen, aber noch nicht die ersten Plätze einnehmen.
Die Staatsmacht kann es sich auf der anderen Seite nicht leisten, das Tempo bei der Verbesserung des Wohlstands der Menschen zu senken, ohne Proteste hervor zu rufen. Gleichzeitig kann weder das Wachstumstempo gehalten (wegen der ineffektiven staatlichen Lenkungsstrukturen) noch die Effektivität des Staatshandelns erhöht werden (weil dafür echte politische Konkurrenz nötig wäre, die zu einem Machtwechsel führen würde). Die Antwort des Staates auf diese Herausforderung der Zeit ist die Ausweitung der Repressionen gegen gesellschaftliche Organisationen, Massenmedien und politische Aktivisten.
In solch einer Situation braucht man für die Unterstützung von politischen Gefangenen, für menschenrechtliche Tätigkeit und für die Diskussion von alternativen Entwicklungswegen für das Land viel Mut. Und der Druck sogar auf Experten zeigt, die im Auftrag des Präsidenten arbeiten, dass das nicht nur einfach Worte sind.
Ich möchte meine tiefe Verbundenheit mit Ihnen allen ausdrücken, die sie auch weiterhin unseren Mitbürgern andere Werte und Ziele aufzeigen, als nur das Streben, das eigene bescheidene Wohlergehen zu erhalten. Das heißt, dass Sie die Werte einer modernen Bürgergesellschaft und echten Patriotismus leben, eines Patriotismus, der dazu aufruft, abzugeben, zu helfen und im Interesse der Zukunft unseres Landes, unseres Volkes zu handeln.
Ich wünsche Ihnen Erfolg,
Hochachtungsvoll, Michail Chodorkowskij
Übersetzung: Jens Siegert