Prozess gegen Alexej Nawalnyj beginnt in Kirow

Heute sollte in Kirow, einer Bezirksstadt, knappe 1000 Kilometer nordöstlich von Moskau, der Prozess gegen den Oppositonellen Alexej Nawalnyj beginnen, wurde aber sofort auf dem 24. April vertagt. Dort, im russischen Norden, soll Nawalnyj laut Staasanwaltschaft einer Firma, deren Mitinhaber er war, Wald im Wert von 16 Millionen US-Dollar gestohlen haben. Die Anklage (eine ausführliche Anlayse gibt es auf Russisch in der Nowaja Gaseta) steht auf mindestens so schwachen Füßen wie bei Russlands bisher berühmtesten politischen Gefangenen Michail Chodorkowskij. Eine Verurteilung ist nichtdestotrotz sehr wahrscheinlich. Gestern noch erklärte der Direktor des Kirower Kreisgerichts in einem Interview, dass man „von hier normalerweise nicht ohne Verurteilung“ wieder rausgeht. Warum? Weil „Staatsanwälte es nicht riskieren“ würden, eine nicht-verurteilungsfähigen Fall vor Gericht zu bringen. Fragen zu Nawalnyj, dem Prozess und der Opposition habe ich n-tv.de in einem Interview beantwortet. Die Fragen hat Jan Gänger gestellt.

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n-tv.de: Dem russischen Oppositionellen Alexej Nawalny wir der Prozess gemacht, er muss sich vor Gericht im nordöstlich gelegenen Kirow wegen Untreue verantworten. Ihm drohen bis zu zehn Jahre Haft. Oppositionelle bezeichnen dieses Verfahren als politisch motiviert. Zu Recht?

Jens Siegert: Ja, bei einer so sichtbaren oppositionellen Figur muss man leider von politischer Motivation ausgehen – zumal drei weitere Verfahren gegen Nawalny anhängig sind. Bei denen ist es nur noch nicht zur Anklage gekommen, die Staatsanwaltschaft ermittelt noch.

Frage: Nawalny war an der Organisation von Massenprotesten gegen Putin in Moskau beteiligt. Der Anwalt betreibt ein Enthüllungsblog, in dem er Korruption anprangert. Außerdem hat er die Bezeichnung „Partei der Gauner und Diebe“ für die Kreml-Partei „Einiges Russland“ geprägt. Schlägt das Imperium deshalb zu?

JS: Das spielt sicher eine Rolle. Bei Nawalny kommt aber hinzu, dass er in der Opposition einer der wenigen ist, der sichtbares politisches Talent hat. Er kann Menschen mobilisieren und sich wie ein Politiker verhalten. Putin hat – das ist ein wichtiger Teil seines Machterhalts – das politische Feld in den vergangenen Jahren leergefegt. Es gibt kaum oppositionelle Politiker, da sie bei Wahlen ganz einfach nicht zugelassen werden. Sie haben keine öffentliche Bühne, kommen nicht ins Fernsehen.

Öffentliche Politik ist jedoch etwas, das man lernen und immer wieder trainieren muss. Nawalny ist in Russland einer der wenigen Menschen, die potenziell eine Herausforderung sein könnten – für Putin, aber auch für andere. So weit ist es aber noch nicht. Er ragt aber aus der Opposition heraus. Insofern handelt es sich bei dem Prozess um einen präventiven Schritt des Kremls.

Frage: Nawalny kündigte kürzlich an, er wolle Präsident werden. Ist das ernsthaft gemeint – oder geht es ihm vielmehr darum, vor dem Prozessbeginn für Öffentlichkeit zu sorgen?

JS: Die nächsten Präsidentschaftswahlen finden – wenn nichts Unerwartetes dazwischenkommt – im Jahre 2018 statt. Insofern kann man sich leicht vorstellen, welchen praktischen Wert diese Ankündigung hat. Ich denke, hierbei handelt es sich um eine Vorwärtsverteidigung. Er will sich natürlich schützen. Gegen einen potenziellen Präsidentschaftskandidaten vorzugehen ist schon etwas anderes als ein Verfahren gegen einen Blogger.

Frage: Nawalny spielt in der russischen Protestbewegung eine exponierte Rolle, er ist dort aber umstritten. Ihm wird vor allem seine mehrfache Teilnahme am alljährlich stattfindenden „Russischen Marsch“ der Rechtsextremen vorgeworfen. Wie ist das zu bewerten?

JS: Innerhalb der Opposition gibt es tatsächlich viele Menschen, die gegenüber Nawalny große Vorbehalte haben und seinen Versuch, am rechten Rand zu fischen, mit Sorge sehen. Nawalny selbst sagt, wenn man die Mehrheit in dem Land wolle, dann sei das unvermeidlich. Zugleich betont er, dass er keinerlei rechtsextreme Ansichten habe. Manchmal spielt Nawalny jedoch mit rassistischen oder antisemitischen Motiven. Das macht ihn auch in der Opposition umstritten. Ich habe zwar den Eindruck, dass er persönlich weder Antisemit noch Rassist ist, sehe das aber auch mit Skepsis.

Frage: Nawalny sagt, er gehe davon aus, ins Gefängnis zu müssen. Wird er damit von der politischen Bühne verschwinden?

JS: Das sehe ich nicht so. Mikail Chodorkowski ist seit fast zehn Jahren eingesperrt und ist heute politisch präsenter als je zuvor. Es gibt in Russland eine lange Tradition, der zufolge eine politisch motivierte Verurteilung eine Art Ritterschlag ist. Nawalny ist noch jung. So zynisch das auch klingt, in gewisser Weise könnte eine Verurteilung seine politische Karriere eher vorantreiben als beenden. Eine russische Zeitung schrieb kürzlich, er würde dann sofort Chodorkowski als „Gefangener Nummer 1“ verdrängen.

Frage: Nawalny ist Teil der Protestbewegung gegen Putin, die angesichts der Repressionen deutlich leiser geworden ist. Wie ist es eigentlich um die Opposition bestellt?

JS: Eine politische Opposition im Sinne einer Demokratie gibt es schon lange nicht mehr. Im Parlament gibt es noch zwei Abgeordnete, die sich regelmäßig gegen Kreml-Initiativen wehren. Bei beiden sieht es so aus, als ob sie in demnächst ihr Mandat verlieren könnten.

Es gibt aber viel Opposition im Land – also Menschen, die das System Putin ablehnen. Da hat es in den letzten zwei Jahren eine Verschiebung gegeben. Wenn vorher bei Umfragen sich zwischen 15 und 20 Prozent gegen Putin ausgesprochen haben, sind es inzwischen ein Drittel der Russen. Ein anderes ein Drittel unterstützt Putin, während es früher knapp die Hälfte war. Und das letzte Drittel sieht Putin als das kleinere Übel an, getreu dem Motto: Wer weiß, wer ansonsten an der Macht wäre. Vergangene Vergangene Woche waren in einer Umfrage des Levada-Zentrums erstmals mehr als 50 Prozent der Befragten der Meinung, dass Putin nach dieser Amtsperiode nicht wieder kandidieren solle. Insofern ist es für Putin schwieriger geworden, zu regieren.

Frage: Seit seiner Wiederwahl vor etwa einem Jahr geht Putin verstärkt gegen die Opposition vor. Unter anderem werden russische Nichtregierungsorganisationen schikaniert. Doch auch nicht-russische Organisationen – wie beispielsweise die Konrad-Adenauer-Stiftung oder die Friedrich-Ebert-Stiftung geraten ins Visier der Behörden. Rechnen auch Sie mit baldigem Besuch von Staatsanwälten, Brandschützern oder Steuerkontrolleuren?

JS: Nachdem diese Stiftungen betroffen waren, haben wir damit gerechnet. Inzwischen scheint es so, als ob das Risiko vorbei sei. Das liegt aber nicht so sehr daran, dass die russischen Behörden plötzlich nett geworden sind. Es liegt wohl vielmehr daran, dass diejenigen, die in der Adenauer-Stiftung in St. Petersburg auftauchten – um Putin zu zitieren – etwas „übereifrig“ vorgegangen sind. Die hatten Computer konfisziert mit der Begründung, sie wollten überprüfen, ob dort keine illegale Software installiert sei. Das hat die deutsche Politik auf den Plan gerufen, der russische Botschafter wurde ins Auswärtige Amt zitiert. Am gleichen Tag wurde die Überprüfung der Stiftungen eingestellt, am nächsten Tagen wurden die Computer zurückgegeben. Uns wurde zu verstehen gegeben, dass die deutschen politischen Stiftungen, zumindest zunächst, nicht mehr angefasst werden.

Frage: Verhaftungen. Prozessen und Repressionen zum Trotz: Die deutsche Außenpolitik ist gegenüber Russland außerordentlich pragmatisch, sie ist von Wirtschaftsinteressen geleitet. Ein Beispiel: Westliche Demokratiemaßstäbe können auf Russland nicht unmittelbar übertragen werden, sagt SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbruck. Bestätigt diese Einstellung die russische Staatsführung nicht in ihrem Repressionskurs?

JS: Glücklicherweise hat Steinbrück in der deutschen Außenpolitik – zumindest noch – nicht so viel zu sagen. Außerdem gibt es andere Positionen, beispielsweise die von Angela Merkel. Die Kanzlerin, zu deren politischem Lager ich wohlbemerkt nicht gehöre, hat jüngst offen Kritik geäußert. Mit der Messe in Hannover hat sie dafür einen Ort gewählt, an dem das bei früheren Bundesregierungen nicht der Fall gewesen wäre. Ich denke, dass die russische Seite versteht, dass sich die öffentliche Meinung in Deutschland geändert hat. Der Wind wird etwas rauer.

Frage: Wie sollte Ihrer Meinung nach eine deutsche Außenpolitik gegenüber Russland aussehen?

JS: Dinge, die schlecht laufen, müssen angesprochen werden – schon allein aus eigenem Interesse. Ich werde in Russland immer wieder gefragt, warum wir uns in Sachen einmischen, die doch russische Angelegenheiten seien. Doch in Zeiten der Globalisierung ist diese Abtrennung häufig unmöglich. Zudem haben wir ein gemeinsames Interesse daran, dass aus Russland ein stabiles und prosperierendes Land wird.

Die meisten russischen Wirtschaftsexperten betonen regelmäßig, dass ihr Land auch eine gesellschaftliche Modernsierung braucht, um wirtschaftlich weiter voran zu kommen. Deshalb ist es im Interesse Deutschlands und Russlands, Probleme zu thematisieren. Das heißt natürlich nicht, dass man keinen Handel betreiben sollte oder keine Kontakte pflegen sollte. Im Gegenteil. Die gegenseitige Visumspflicht muss fallen. Je mehr Kontakte auf allen Ebenen, umso besser. Wir müssen uns noch besser kennenlernen. Sowohl in Russland als auch in Deutschland gibt es viele Vorurteile. Je mehr Menschen das jeweils andere Land besuchen, umso besser.